Ein Riss geht durch die Republik
Das Rennen um das Präsidentenamt im Österreich ist entschieden, die Gesellschaft bleibt in Zwietracht zurück
Das Rennen um das höchste Amt im Staat ist in Österreich so knapp wie nur irgend möglich ausgegangen. Alexander Van der Bellen lag letztlich mit 31 000 Stimmen vor Norbert Hofer. Nirgendwo sonst in Europa gibt es ein grünes Staatsoberhaupt. Doch die Niederlage des rechten Burschenschafters darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht die Linke war, die sich den Sieg Van der Bellens auf ihre Fahnen heften kann. Das gesamte politische Establishment wurde aufgeboten, um den Kandidaten der rechtspopulistischen FPÖ zu verhindern. Dies ist die eigentlich bedenkliche Botschaft der Wahl.
Von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz abwärts haben sich die politisch Mächtigen der Europäischen Union gegen Hofer ausgesprochen. Und im Land selbst vereinte Van der Bellen hinter sich die ganz große Koalition. Die Spitzen der Sozialdemokraten, drei ehemalige Parteichefs der konservativen ÖVP bis hin zu kirchlichen Würdenträgern wie dem Erzbischof von Wien, Christoph Schönborn, sprachen sich meist direkt und im Falle des obersten Katholiken indirekt für Van der Bellen aus. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch, dass es dem FPÖ-Kandidaten gelang, alle mit dem politischen System und der sozio-ökonomischen Entwicklung Unzufriedenen hinter sich zu versammeln. Entsprechend selbstbewusst zeigte sich Parteichef Heinz-Christian Strache am Dienstag in Wien: »Wir sind heute stärker denn je.«
Das Land ist nach diesem Wahlgang in vielfacher Hinsicht gespalten. Da ist zum Einen der sehr unterschiedliche Wahlausgang zwischen den Städten und dem flachen Land. In Wien kam Van der Bellen auf 63,3 Prozent, im Burgenland lag Hofer mit 61,4 Prozent vorne. Interessant daran ist, dass beide Bundesländer von sozialdemokratischen Landeshauptleuten regiert werden. Die Präferenz beim präsidentiellen Urnengang verlief also nicht entlang der Parteigrenzen.
Die Gesellschaft sieht sich nach dem 22. Mai auch in der Geschlechterfrage uneins. 60 Prozent der Frauen wählten Van der Bellen, 60 Prozent der Männer Hofer. Die Gebildeten machten, wenig verwunderlich, beim Grünen, die »bildungsfernen Schichten« - wie es im Soziologendeutsch heißt - beim Rechten ihr Kreuz.
Zusammenfassend kann die Trennlinie im Wahlverhalten der ÖsterreicherInnen als eine gezogen werden, die zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern verläuft. Erstere glaubten den Aufrufen der politischen Elite, dass es nur mit Van der Bellen und seinem betont EU-affinen Kurs aufwärts gehen könne, Letztere meldeten mit ihrer Stimmabgabe für Hofer ihre Zweifel an diesem Versprechen an. Ihr Unglaube entspringt oft der eigenen Erfahrung, die seit gut zwei Jahrzehnten aus einem Rückbau des Sozialsystems, Reallohnverlusten und verstärkter Konkurrenz am Wohnungs- wie Arbeitsmarkt besteht. Die Flüchtlingsfrage ist dafür einer von mehreren Auslösern, doch das Problem einer gespaltenen Gesellschaft liegt tiefer. Und die Linke muss sich fragen lassen, warum sozial Schwache zunehmend in die Arme der Rechten driften.
Diese haben zwar kein konsistentes Angebot und spielen im Gegenteil die rassistische Karte zwecks weiterer gesellschaftlicher Teilung, aber sie sprechen die soziale Frage an, die in den herrschaftlichen Kreisen der EU- und Staatskanzleien gar nicht realisiert wird. Van der Bellen ließ in seiner ersten Rede nach Bekanntwerden seines Wahlsieges erkennen, dass er sich dieses Problems bewusst sei. »Die eine Hälfte ist so wichtig wie die andere«, meinte er vordergründig staatstragend, um dann mit einer Plattitüde zu enden: »Gemeinsam ergeben wir dieses schöne Österreich.«
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