IS tötet im Irak immer mehr kampfunwillige Männer

Anti-IS-Allianz erobert fünf Dörfer und mehrere Felder in Syrien / Ankara sauer über US-Unterstützung für Kurden-Offensive / Außenminister: YPG ist Terrororganisation wie IS und Boko Haram

  • Lesedauer: 5 Min.

Bagdad. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) tötet nach UN-Angaben in der westirakischen Stadt Falludscha immer mehr Zivilisten, die nicht für sie kämpfen wollen. Es gebe Berichte über einen »dramatischen Anstieg« von Opfern unter Männern und männlichen Jugendlichen, meldete die Hilfsorganisation UNHCR am Freitag. Viele Einwohner seien zudem bei Kämpfen um die Stadt unter den Trümmern ihrer Häuser begraben worden. Genaue Zahlen nannte der UNHCR nicht.

Die Armee und Milizen hatten Anfang der Woche mit Unterstützung von US-Luftangriffen eine Offensive begonnen, um den »IS« aus der Stadt rund 70 Kilometer westlich von Bagdad zu vertreiben. Falludscha ist nach der nordirakischen Stadt Mossul die wichtigste IS-Hochburg im Krisenland Irak. Die Terrororganisation kontrolliert die Stadt seit Januar 2014.

Hilfsorganisationen hatten bereits am Donnerstag vor einer humanitären Katastrophe in Falludscha gewarnt. Rund 50.000 Zivilisten seien eingeschlossen und befänden sich in einer »extremen Notlage«, sagte die lokale Sprecherin des Norwegischen Flüchtlingsrates (NRC), Becky Bakr Abdullah. Es gebe Berichte über großen Hunger.

Die Kämpfe gingen auch am Freitag weiter. »Wir sind äußerst besorgt, dass die Menschen unter Feuer geraten könnten«, sagte Bakr Abdullah. Ein Flüchtling berichtete nach Angaben des NRC, er und seine Familie hätten zuletzt vor vier Monaten Reis gegessen und sich ansonsten von getrockneten Datteln ernährt. Andere Familien hätten gar nichts zu essen. Viele Einwohner tränken Wasser aus dem Euphrat, erklärte der NRC. Seit September seien keine Hilfstransporte mehr in die Stadt gekommen. Nach UNHCR-Angaben starben bereits zwei Menschen an Hunger.

Demnach konnten in den vergangenen Tagen mehr als 800 Menschen aus Falludscha entkommen. Sie hätten erschütternde Geschichten erzählt, erklärte Leila Jane Nassif vom UNHCR. Eine Flucht sei nur unter größtem Risiko möglich. Die Menschen müssten nachts über Stunden zu Fuß laufen, ehe sie in Sicherheit seien.

Regierungstreue Kräfte stießen nach Angaben von Ministerpräsident Haidar al-Abadi weiter auf Falludscha vor. Die Region um den Ort Al-Karma nördlich der Stadt sei befreit worden, teilte Al-Abadi mit.

Die Militärkampagne ist umstritten, weil an der Offensive auch schiitische Milizen beteiligt sind - Falludscha und die dazugehörige Provinz Al-Anbar sind jedoch eine sunnitische Hochburg. Die Spannungen zwischen den beiden großen muslimischen Konfessionen sind im Irak seit langem groß, weil sich die Minderheit der Sunniten von der Mehrheit der Schiiten diskriminiert fühlt. Davon profitiert die sunnitische IS-Terrormiliz, die sich den Unmut zunutze macht.

Kurdische und arabische Kämpfer rücken auf Raka vor

In Syrien sind unterdessen kurdische und arabische Kämpfer bei ihrer Anti-IS-Offensive weiter auf die Stadt Raka in der gleichnamigen Provinz vorgerückt. Beim Vormarsch auf die Stadt, eine Art Hauptstadt der Dschihadistenmiliz in Syrien, seien fünf Dörfer und mehrere Felder erobert worden, sagte ein Kommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Die Frontlinie liegt noch 60 Kilometer vor Raka.

Die SDF würden IS-Stellungen praktisch ohne Unterbrechung mit Artillerie beschießen, erklärte die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Sie würden von der US-geführten Anti-IS-Koalition durch pausenlose Luftangriffe unterstützt, teilte die in Syrien vernetzte Organisation mit.

US-Spezialkräfte helfen den SDF-Kräften auch am Boden, wie ein AFP-Fotograf beobachtete. »Sie beschießen Autos, die der IS als Bomben gegen uns einsetzt«, sagte ein SDF-Kommandeur. Das Pentagon bestritt den Einsatz der US-Soldaten nicht.

Der Beobachtungsstelle zufolge hat die IS-Miliz nördlich der Stadt Raka 2000 Kämpfer zusammengezogen, um die Hochburg zu verteidigen. »Sie haben sich vorbereitet, Tunnel gegraben und Sprengstoff versteckt, sie haben auch Autobomben vorbereitet und sich in Gebäuden unter Zivilisten gemischt«, sagte der Direktor der in Großbritannien ansässigen Organisation, Rami Abdel Rahman.

Die Offensive in Raka war am Dienstag ausgerufen worden, einen Tag nach dem Start von Angriffen auf die IS-Hochburg Falludscha im Irak. Experten erwarten keine raschen Eroberungen der beiden Städte, weil sich die Terrororganisation lange auf die Offensiven vorbereiten konnte.

Ankara erzürnt über US-Bodenunterstützung für Kurden-Offensive in Syrien

Die Türkei hat derweil erzürnt auf die US-Unterstützung der kurdischen Offensive gegen die IS-Dschihadisten in Syrien reagiert. Es sei »nicht zu akzeptieren«, dass US-Soldaten auf Fotos der Nachrichtenagentur AFP mit den Abzeichen der Kurden-Miliz YPG zu sehen seien, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Freitag. Ankara betrachtet die YPG als Terrororganisation und wirft ihr Anschläge auf türkischem Boden vor.

Für Washington ist die YPG-Miliz einer der schlagkräftigsten Verbündeten im Kampf gegen den IS. Die Kurden stellen den Großteil der Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte, die am Dienstag eine Anti-IS-Offensive in der syrischen Provinz Raka gestartet haben. US-Spezialkräfte unterstützen die Offensive am Boden.

Cavusoglu sagte voller Sarkasmus vor Journalisten in Antalya: »Wir raten den US-Truppen, IS-Abzeichen zu tragen, wenn sie in anderen Gegenden Syriens unterwegs sind. Und Boko-Haram-Abzeichen, wenn sie nach Afrika gehen.« Wenn Washington die YPG nicht mit diesen Gruppen gleichsetze, sei dies »Messen mit zweierlei Maß und Heuchelei«. Agenturen/nd

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