Gesunde Luftnummer

Gabriela und Stefan Ehlers: Jonglieren ist eine spezielle Art der Meditation. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 5 Min.

Wird Stephan Ehlers mal wieder eingeladen, um vor einer Betriebsversammlung zu sprechen, über die Folgen einer Fusion und was das eventuell für den Einzelnen bedeutet, holt er irgendwann gerne seine Bälle raus. Und fragt: »Wer traut sich zu, in 30 Minuten Jonglieren zu lernen?«

Die Anwesenden reagieren meist mit einer Mischung aus Verblüffung und Unglauben. Melden sich aber die ersten vier oder fünf Freiwilligen, ziehen auch andere nach. Am Ende sind es oft mehrere Dutzend, und der Saal, in dem zuvor besorgte Gesichter dominiert haben tobt vor Begeisterung.

Jonglieren zwecks Beschwichtigung und Einlullen angesichts drohender real-kapitalistischer Rationalisierung und drohender Wegrationalisierung? Ein naheliegender Einwand, den Stephan Ehlers in dieser plakativen Form trotzdem so nicht stehen lassen würde. Schließlich verdient der 55-jährige Münchner seine Brötchen als Unternehmensberater, und die Jongliereinlagen sind keine Mätzchen zwischendurch. Sie sollen, so Ehlers, Mutige anspornen, die zu ihm aufs Podium steigen: »Die Leute merken, dass sie etwas schaffen, was zuvor niemand von ihnen auf dem Zettel hatte.« Das könne helfen, Ängste zu überwinden, und setze Energien frei, die in künftigen Krisensituationen mobilisiert werden können, analysiert er.

Jonglieren, der perfekte Mentaltrainer im neoliberalen 21. Jahrhundert? Die überraschende Karriere einer traditionellen Kunst, die im Mittelalter abgetan wurde als höchst dubiose Gaukelei? Denn einst warfen sittenstrenge Kleriker solcherart Artisten vor, einer liederlichen Moral zu frönen. Typisch ist das Verdikt eines provenzalischen Chronisten: »Qual mestiers es plus aontos, d'eser joglar o laire?«, übersetzt: »Was kann eine schlimmere Beschimpfung sein, ein Jongleur oder ein Dieb zu sein?« Ein harsches Urteil, das Stephan Ehlers und Frau und Partnerin Gabriele im nd-Gespräch bloß amüsiert zur Kenntnis nehmen. Die zwei haben parallel zu ihren Beraterjobs in der Wirtschaft in München eine Jonglierschule aufgebaut. Denn längst ist Jonglieren anerkannt als eigenständige Kunstform.

Und es ist noch viel mehr. Erwiesenermaßen verbessert das gleichzeitige Hantieren mit mehreren Objekten, die in die Luft geworfen werden - im Standardprogramm Bälle, Keulen oder Ringe -, spürbar die Gesundheit der Aktiven. Jonglieren fördert räumliches Vorstellungsvermögen und Reaktionsschnelligkeit: »Linke und rechte Gehirnhälfte werden gleichmäßig beansprucht, deswegen besser durchblutet und mit Sauerstoff angereichert«, doziert Stephan Ehlers. Es handelt sich also um eine gesunde Luftnummer, für die das virtuose Ehepaar Ehlers ganz aktuell noch mehr Fans gewinnen möchte. Am 10. Juli 2016 starten die beiden in München einen Weltrekordversuch. Anfänger sollen in sensationellen zehn Minuten lernen, mit drei Bällen zu jonglieren.

Klingt ziemlich unwahrscheinlich in den Ohren von Zweiflern, die wie der Autor bereits Schwierigkeiten haben, einen einzigen Ball halbwegs unter Kontrolle zu kriegen. Tatsächlich aber dürften alle Interessierten, die genügend Ausdauer mitbrächten und willens seien, den ewigen »inneren Schweinehund zu überwinden«, das Jonglieren im Ergebnis packen, versichern die Ehlers.

Alles beginnt ganz einfach. Ein Ball genügt zunächst. Den müssen Neulinge werfen und fangen, erst links, dann rechts, hin und her, erläutert Stephan Ehlers. Die nächste Stufe: Zwei Bälle kommen ins Spiel, einer fliegt, der andere ruht für Sekundenbruchteile in der Hand, und umgekehrt. Stufe drei: die Bälle werden über Kreuz geworfen, usw., usf.

Unmerklich verwandele sich »Sehen dabei in Fühlen«, resümiert Stephan Ehlers. Der Blick folge nicht mehr den Flugbahnen der Bälle: »Profis gucken geradeaus, und zwar dorthin, wo die Dinger nach den Gesetzen der Physik runterkommen.« Und die Bewegungen der Hände rutschen vom Bewussten ins Unbewusste, vergleichbar etwa den Lernprozessen beim Radfahren, Schwimmen, Musizieren.

Seine Liebe für den Tanz der Teile in der dritten Dimension hat bei Ehlers vor 30 Jahren begonnen. Es war eigentlich das Ergebnis eines Gelegenheitskaufs, erinnert er sich. Ohne viel Masterplan im Hinterkopf erwarb er ein paar Bälle und brachte sich autodidaktisch das Jonglieren bei. Aus reiner Neugier, ob er das schaffen würde. Und jetzt, in der Gegenwart, steuert er fünf Bälle gleichzeitig über virtuelle Koordinaten. Und peilt obendrein die nächste Steigerung an, aus dem scheinbar schwerelosen Quintett mit einem weiteren Ball ein Sextett zu machen.

Was bringt ihm das Jonglieren persönlich? »Du wirst runtergeholt vom stressigen Alltag, du denkst einfach nicht mehr. Das ist eine wunderbare Entspannung.« Auf diese Weise finde er innere Ruhe, schwärmt Stephan Ehlers. Jonglieren sei gewissermaßen eine spezielle Art der Meditation, schwungvoll und fokussiert, ohne den Geist zu belasten. So dass dieser Sport gerade auch im Schulbereich verstärkt eingesetzt werden sollte, wünscht sich der Münchner. Und denkt an eine neue, besondere Zielgruppe: die ADHS-Kinder. Regelmäßiges Jonglieren könne ihnen beibringen, sich auf neue Aufgaben zu konzentrieren, möglichst ohne Medikamente.

Die wirbelnden Bälle können auch ein Gravitationsfeld schaffen, bei Kindern Lese- und Schreibschwächen zu therapieren, erzählt der Jonglierlehrer, und er erläutert: »In acht von zehn Fällen verrutschen den Betroffenen beim Lesen die Buchstaben, und die Augen nehmen Texte maximal verschwommen wahr. Da Jonglieren die Augen optimal trainiert, werden die Sehnerven gestärkt - und plötzlich fällt das Lesen deutlich leichter.« Ganz abgesehen davon, dass Jonglieren die Verdichtung der grauen Substanz im Gehirn anrege.

Die einstmals verpönte Disziplin der flinken Finger hat sich offenbar zum Problemlöser in mancherlei Lebenslagen emanzipiert. Mit einer Ausnahme: Ungeachtet fleißiger Jonglage hat Stephan Ehlers ein persönliches Handicap bisher nicht eliminieren können: »Obwohl Rhythmusgefühl zwingend zum Jonglieren gehört, stelle ich mich beim Tanzen notorisch ungeschickt an«, gesteht der Meister. Sitze er an Schlagzeug und Trommel, halte er mühelos den Takt, aber das höre auf »unterhalb des Bauchnabels«, berichtet er lachend.

Sei's drum. Zum Ausgleich verblüfft der Jonglierguru mit einem anderen Trick: An Stelle von fliegenden Bällen inszeniert er ein Miniballett aus Schneebesen. Tanzen muss nicht jeden Tag sein. Aber Kuchen mit Sahne geht wohl immer.

Weitere Infos: www.jonglierkurs-muenchen.de, www.jonglierschule.de/

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