Furchtbare Invasoren

Vor 75 Jahren überzog die Wehrmacht die Insel Kreta mit blutigem Terror. Von Martin Seckendorf

  • Martin Seckendorf
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Frühsommer 1940 konnte die Deutsche Wehrmacht innerhalb weniger Wochen ganz Westeuropa unterwerfen. Angesichts dieses unerwarteten Erfolgs unternahmen die deutschen Machthaber eine dramatische Wendung ihrer Politik: Im Juni 1940 wurde beschlossen, die UdSSR im Mai 1941 anzugreifen.

Um beim »Ostfeldzug« einem Zweifrontenkrieg zu entgehen, wollte die deutsche Führung mit dem noch unbesiegten Großbritannien zu einem Agreement kommen. Doch die britische Regierung erklärte, dass sie den Krieg bis zum Sieg über Deutschland fortsetzen werde. Mit politischen Offerten und militärischen Drohungen sollte London doch noch zu einem Meinungsumschwung bewegt werden. So legte am 30. Juni 1940 der Chef des Wehrmachtführungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Alfred Jodl, für den Fall, dass »politische Mittel nicht zum Ziele führen«, ein Programm für eskalierende Kampfhandlungen auch an der »Peripherie« des britischen Empire, vor allem im Mittelmeer und Nordafrika, vor. In diesem Zusammenhang geriet Kreta in das Visier der deutschen Planer. Der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, forderte am 24. Oktober 1940 eine »Luftlandung (auf) Kreta«, da Hitler »immer wieder« darauf hingewiesen habe, dass die »Kriegführung im ostwärtigen Mittelmeer zu raschen Erfolgen führen wird, wenn man Kreta besitzt«.

Als britische Truppen den Griechen gegen eine von Albanien aus am 28. Oktober 1940 begonnene italienische Aggression zu Hilfe kamen, beschloss am 4. November 1940 die Nazi-Führung, Hellas militärisch zu unterwerfen. Am 6. April 1941 begann der deutsche Überfall. Am 30. April war das griechische Festland erobert. Seit dem 15. April 1941 bereitete die Wehrmacht unter der Deckbezeichnung »Unternehmen Merkur« die Invasion Kretas vor. Die Insel sollte als Nachschub- und Absprungbasis für offensive Aktionen, insbesondere als Stützpunkt der Luftkriegsführung gegen Britannien im östlichen Mittelmeer und in Nordafrika dienen.

Am 20. Mai 1941 begann mit einer Luft- und Seelandung die Invasion der Insel. Die Verteidiger, 32 000 Soldaten des britischen Empire und 10 000 griechische Soldaten, fügten den Invasoren materielle und personelle Verluste in Höhe von bis zu 50 Prozent zu. Im Oberkommando des Heeres erwog man deswegen sogar eine Verschiebung des nunmehr auf den 22. Juni 1941 festgesetzten Angriffs auf die Sowjetunion. Erst am 30. Mai, als die Kämpfe auf der Insel zugunsten der Wehrmacht beendet waren, erging die Weisung, dass der Überfall auf die UdSSR wie geplant zu beginnen habe.

Die personellen Verluste der Wehrmacht waren auch deshalb so hoch, weil sich die Bevölkerung an der Abwehr der Aggression beteiligte. Obwohl dieses Verhalten der Kreter durch Artikel 2 der Haager Landkriegsordnung von 1907 gedeckt war, nahmen es die Invasoren zusammen mit der Behauptung, es seien von der Bevölkerung Gräueltaten gegen Deutsche verübt worden, zum Anlass für einen Rachefeldzug. Der Kommandeur der 5. Gebirgsdivision, Julius Ringel, befahl am 23. Mai, für jeden getöteten oder verwundeten Deutschen seien zehn Griechen zu erschießen. Soldaten umstellten Dörfer und trieben die Bevölkerung zusammen. Vor den Augen der Dorfgemeinschaft erschoss man wahllos und ohne Prüfung, ob die Einwohner dieses Ortes sich am Kampf beteiligt hatten, meist 20 bis 30, manchmal auch deutlich mehr Männer.

Ende Mai waren die Kämpfe beendet. Italien besetzte im Osten etwa ein Drittel der Insel, der größere westliche Teil kam unter deutsche Herrschaft.

Um die Kreter zur Duldung der Okkupation, der ökonomischen Ausbeutung und zur Arbeit für die Deutschen zu zwingen, wurde der Massenterror auch nach dem Ende der Kämpfe fortgesetzt. Am 31. Mai 1941 erließ der Kommandierende General des XI. Fliegerkorps, Kurt Student, einen Grundsatzbefehl, der als eine der grausamsten Weisungen der jüngeren deutschen Militärgeschichte gilt. Student legalisierte darin die »wilden« Massenerschießungen durch »die Truppe« während der Kämpfe. Es sei systematisch und »mit äußerster Härte« vorzugehen. Die Maßnahmen waren als Revanche für die hohen Verluste und, wie Student betonte, »als Abschreckungsmittel für die Zukunft« gedacht. Der General verordnete einen drakonischen Strafkatalog. Neben dem »Niederbrennen von Ortschaften« sollten Erschießungen bis »zur Ausrottung der männlichen Bevölkerung ganzer Gebiete« erfolgen. Auf Grund der Befehle wurden zwischen Anfang Juni und Ende September 1941 etwa 2000 Kreter umgebracht.

Ende 1942 veränderte sich die Kriegslage entscheidend zu Ungunsten Deutschlands. Das OKW ging davon aus, dass die Alliierten noch im 1. Halbjahr 1943 eine Landung in Griechenland unternehmen werden. Kreta, bis dahin Basis für Offensivaktionen, wurde Mittelpunkt eines Festungsgürtels vom Dodekanes bis zur Peloponnesos, um einen Einbruch der Alliierten in die Ägäis zu verhindern.

Der Funktionswandel im strategischen Kalkül der Deutschen hatte für die Kreter fatale Folgen, nämlich verstärkte Ausbeutung und härtere Unterdrückung. In der Grundsatzweisung Hitlers vom 28. Dezember 1942 wurde angeordnet, Kreta »festungsmäßig auszubauen«. Zur Finanzierung des gigantischen Festungsbauprogramms wurden die Besatzungskosten verdoppelt. Außerdem drängte das OKW auf die »endgültige Befriedung des Hinterlandes und Vernichtung der Aufständischen und Banditen aller Art«. Man wollte im Falle einer alliierten Aktion Ruhe in der Festung und den »Rücken frei« haben. Die Bevölkerung sollte derart eingeschüchtert werden, dass sie es im Invasionsfall nicht wage, sich zu erheben. Vor allem ging es darum, die linksorientierte Widerstandsbewegung, die Nationale Befreiungsfront (EAM) und ihren militärischen Arm, die Griechische Volksbefreiungsarmee (ELAS), zu vernichten.

Eines der ersten Opfer der neuen Terrorwelle wurde die Großgemeinde Viannos im Südosten der Insel. Die 22. Infanteriedivision unternahm Mitte September 1943 eine »Säuberungsaktion« in diesem Gebiet, die zum größten Massaker an Zivilisten auf Kreta führte. Im Abschlussbericht der Heeresgruppe E wird bilanziert: »440 Banditen tot, 200 Festgenommene, drei Bandenortschaften zerstört«. Zuvor waren die Ortschaften geplündert worden. Danach errichteten die Besatzer eine großräumige Sperrzone um die Gemeinden. Jeder, der darin angetroffen wurde, konnte ohne Warnung erschossen werden.

Am 15. August 1944 befahl der Kommandant der Festung Kreta, »scharfes Zupacken …, um der griechischen Bevölkerung unseren Willen aufzuzwingen«. Es dürfe »keine Zurückhaltung mehr gegenüber nichtschuldigen Männern, Frauen und Kindern geübt werden«. Er ordnete an, »Dörfer mit besonders feindlicher Bevölkerung völlig zu evakuieren und dem Erdboden gleichzumachen«. Ohne Vorwarnung sollten Ortschaften »durch zusammengefasstes Feuer der Artillerie« vernichtet werden. Am 13. August 1944 traf es die Gemeinde Anogia südwestlich von Iraklion. Ohne ersichtlichen Anlass befahl der Festungskommandant, den »Ort dem Erdboden gleichzumachen und jeden männlichen Einwohner … hinzurichten, der innerhalb des Dorfes oder in seinem Umkreis in einer Entfernung bis zu einem Kilometer angetroffen wird«. Kein Gebäude blieb verschont. 117 Bewohner wurden getötet.

Ziel großer Säuberungsaktionen wurde zunehmend Westkreta, das im Falle einer alliierten Invasion als »Kernfestung« gehalten werden sollte. Die Heeresgruppe E berichtete fast täglich über »Säuberungsunternehmen« mit Massenerschießungen. Nach dem Bericht über ein Unternehmen gegen Gemeinden am Ida-Gebirge im August 1944 wurden 13 Dörfer zerstört, »rund 500 Banditen und Banditenhelfer« erschossen sowie 1000 Personen festgenommen.

Als die Rote Armee am 20. August 1944 den Südteil der Ostfront durchbrach, wurden Truppen von der Insel an die Donau verlegt. Die verbliebenen Soldaten zogen sich in die »Kernfestung« um Chania zurück, wo sie am 9. Mai 1945 kapitulierten.

Nach Kriegsende beschäftigten sich griechische und internationale Gerichte mit den Verbrechen auf der Insel. Die für Kreta zuständigen Generale Hellmuth Felmy und Wilhelm Speidel erhielten im Geiselmordprozess der USA 1948 langjährige Freiheitsstrafen, wurden aber im Zeichen der Wiederbewaffnung Westdeutschlands bereits 1951 auf freien Fuß gesetzt. Die Kommandanten der Festung Kreta, Bruno Bräuer und Friedrich-Wilhelm Müller, wurden 1947 in Athen hingerichtet. Ihr Vorgänger, Alexander Andrae, erhielt eine lebenslange Haftstrafe, kam aber 1952 frei. Student, der in britischem Gewahrsam saß, entging einer Bestrafung, weil London seine Überstellung an Griechenland ablehnte.

Deutsche Behörden ermittelten erst auf Drängen der griechischen Regierung, die umfangreiches Beweismaterial gegen etwa 80 Beschuldigte übersandte. Alle Verfahren wurden eingestellt. Als entlarvendes Fazit bleibt: Kein Wehrmachtsangehöriger ist wegen auf Kreta begangener Untaten von einem deutschen Gericht verurteilt worden. Andererseits konnten viele Offiziere ihre Karriere in der Bundeswehr fortsetzen. Das eklatanteste Beispiel ist Heinz Trettner. Bei der Invasion Kretas war er Generalstabschef bei Student, in der Bundesrepublik avancierte er zum Generalinspekteur der Bundeswehr.

Dr. Martin Seckendorf ist Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.

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