»Wir müssen konsequent aufräumen«
Der Thüringer Verfassungsschutz-Chef Stephan J. Kramer über Demokratie, Geheimdienste und die Gefahr von Rechts
Herr Kramer, wann haben Sie eigentlich das letzte Mal ins Grundgesetz geschaut?
Vor etwa zwei Monaten. Ich habe einen Vortrag vorbereitet, der sich um die Frage dreht, ob es einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit gibt.
Stephan J. Kramer wurde 1968 in Siegen geboren. Er war von 2004 bis 2014 Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland. Seit Dezember 2015 leitet er das Amt für Verfassungsschutz in Thüringen.
Und, wie fällt Ihre Antwort aus?
Es gibt keinen Widerspruch, im Gegenteil: Freiheit und Sicherheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken.
Der Leiter einer Landesbehörde, die faktisch ein politischer Inlandsgeheimdienst ist, muss wohl so sprechen. Geheimhaltung, Intransparenz, Überwachung, Datensammelei: Das alles trägt nicht gerade zur Freiheit bei, oder?
Der Verfassungsschutz ist kein Geheimdienst, sondern ein Nachrichtendienst. Und das ist nicht nur Wortklauberei. In einer Demokratie kommt ihm die Aufgabe zu, Bestrebungen gegen die demokratische Verfasstheit einer offenen Gesellschaft zu beobachten. Er dient der wehrhaften Demokratie. Es gibt eine objektive Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Verfassungsschutz, die aber in beiden Bereichen nicht immer erkannt wird, wie es Prof. Pfahl-Traughber einmal treffend formuliert hat.
Was ist denn bitte der Unterschied zwischen Geheim- und Nachrichtendienst?
Ein Geheimdienst als klassisches Instrument eines diktatorischen Regimes hat die Aufgabe, die Gesellschaft hinsichtlich einer möglichen Gefahr für die Herrschenden zu überwachen. Der Verfassungsschutz unterliegt vielfältigen Kontrollmöglichkeiten. Das sind die Dienst- und Fachaufsicht des Innenministeriums, die Parlamentarische Kontrollkommission des Thüringer Landtages, die G10-Kommission, der Datenschutzbeauftragte und der Rechnungshof, aber auch Bürgeranfragen und Klagemöglichkeiten. Nach einem Geheimdienst mit willkürlichen Überwachungsmethoden sieht das für mich nicht aus.
Wir arbeiten gerade einen der größten Skandale der Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik auf, die Verstrickung in den NSU-Fall. Immer wieder kommen neue Dinge heraus, die vorher nicht bekannt waren - sie waren also geheim.
Ich will die aktuelle Situation überhaupt nicht schönreden. Nach dieser Katastrophe, ein rechtsterroristisches Netzwerk nicht ausschalten zu können, hat die Politik hier in Thüringen drastische Konsequenzen gezogen und die Kontrollmechanismen und Befugnisse des Verfassungsschutzes restriktiv festgelegt. Aus Sicht eines Verfassungsschützers sind die Schellen so eng angelegt, dass ich manchmal etwas stöhne. Aber klar ist auch: Nach dem NSU-Skandal ist Kosmetik keine Alternative. Wir müssen konsequent aufräumen und einen substanziellen Neuanfang hinbekommen. Nur so können wir versuchen, das Vertrauen zurückgewinnen.
Sie sprechen von engen Schellen. Was meinen Sie?
Wir haben zum Beispiel sehr viele umfangreichere neue Berichtspflichten. Wir müssen detailliert über unsere Tätigkeiten den Kontrollgremien Auskunft geben - und zwar monatlich. Das bindet Personal, das wir an anderer Stelle gut gebrauchen könnten. Denn wir haben auch eine wachsende Gefährdungslage. Wenn unsere Leute permanent an der Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten müssen, geht das zu Lasten der eigentlichen nachrichtendienstlichen Arbeit und der Analysefähigkeit.
Ist das für Sie Verfassungsschutz: Überwachung?
Wir überwachen aus einem konkreten Anlass. Es geht um Demokratieschutz vor der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz. Wir wollen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung frühzeitig erkennen und damit letztendlich verhindern, in dem auf der Basis unserer Analysen und Bewertungen Politik, Polizei und Justiz rechtzeitig einschreiten können. Die wehrhafte Demokratie funktioniert nur, wenn der liberale Rechtsstaat über das Potenzial seiner Gefährdung durch Extremisten informiert ist und über entsprechende Abwehrmechanismen verfügt.
Für Straftaten sind Polizei und Justiz zuständig.
Es geht aber gerade um das Vorfeld des Demokratieschutzes vor der strafrechtlichen Relevanz. Entscheidend ist die Frage - und dies wird zu Recht kontrovers diskutiert -, ob der Staat und im Besonderen die Verfassungsschutzbehörden gewaltfrei und legal agierende politische Organisationen beobachten dürfen. In diesem Zusammenhang erlangen auch die Frage der Definition des Extremismusbegriffs, die in der Wissenschaft seit Jahren diskutiert wird, und die Auswirkungen auf die Arbeit der Verfassungsschutzämter besondere Bedeutung. Wir fragen uns schon selbstkritisch, ob uns die aktuelle Extremismusdefinition für den Verfassungsschutz die echten Bedrohungen zuverlässig erkennen lässt. Fest steht aber auch, dass die meisten Gewalttäter sich zuvor in nicht-gewalttätigen Personenzusammenschlüssen ideologisch radikalisiert haben. Am Ende geht es aber immer auch um eine effektive Zusammenarbeit auf der Basis der gesetzlichen Vorschriften und der Beachtung des Trennungsgebotes zwischen Verfassungsschutz, Polizei und Justiz.
Wollen Sie das Trennungsgebot aufheben?
Nein, aber ich glaube, dass wir uns eine Grundsatzdebatte über die Sicherheitsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland leisten sollten. Beispielsweise wie und ob bestimmte Konstruktionen und Regelungen angesichts der heutigen Gefährdungssituationen, der föderalistischen Strukturen noch angemessen und sinnvoll sind.
Die Forderung nach Auflösung der Landesämter für Verfassungsschutz haben Sie früher selbst erhoben.
Ich habe vor meiner Zeit hier im Amt in einer Arbeitsgruppe der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema »Ideologien der Ungleichwertigkeit« mitgewirkt und in einem Aufsatz die Frage aufgeworfen, ob die Konstruktion Verfassungsschutz, die einmal unter ganz anderen historischen Bedingungen entstanden ist, heute noch sinnvoll ist. Diese Frage ist immer noch richtig. Aber angesichts der Bedrohungslage vor allem von Rechtsextremisten können wir uns eine umfangreiche Werftpause nicht erlauben. Das darf natürlich keine Ausrede dafür sein, konstruktive Selbstkritik und notwendige Reformen zu unterlassen.
Auflösung wäre eine sehr weitgehende Form von Selbstkritik.
Wir sollten uns keine voreiligen Denkverbote auferlegen. Aber was würde sich nach einer Auflösung ändern? Jemand anderes würde die Aufgabe übernehmen müssen. Am Ende lägen doch wieder nachrichtendienstliche Mittel in den Händen einer staatlichen Behörde. Die Frage des verantwortungsvollen Einsatzes dieser Mittel im Rahmen der gültigen Gesetze und parlamentarischen Kontrolle stellt sich dann in gleicher Weise. Es geht im Kern um das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Verfassungsschutz in einer Demokratie.
Vielleicht ist das ja das eigentliche Problem: Das Wesen des Geheimdienstlichen ist mit Demokratie nicht kompatibel.
Noch einmal: Der Verfassungsschutz ist kein Geheimdienst, sondern ein Nachrichtendienst. Auf den Unterschied habe ich hingewiesen. Es existiert eine unauflösbare Dilemma-Situation, wie sie der Staatsrechtler Karl Loewenstein beschrieben hat: »Eine Demokratie muss um ihrer Identität Willen einerseits ihren Feinden politische Grundrechte zugestehen und um ihres Schutzes Willen andererseits ihnen die Möglichkeit zur Systemüberwindung verwehren.« Der Verfassungsschutz muss sich als Dienstleister der Demokratie verstehen. Dazu gehört auch eine Öffnung in Richtung Gesellschaft mit dem Ziel: so wenig Geheimhaltung wie nötig und so viel Transparenz wie möglich. Es muss uns gelingen, dass die nachrichtendienstliche Beobachtung und Bewertung extremistischer Bestrebungen auch im Meinungsbild der Gesellschaft ihre Legitimität und Wertschätzung erfährt.
Beobachten Sie auch die AfD? In Thüringen fühlt sich der rechtsradikale Flügel dieser Partei zuhause.
Derzeit ist die AfD noch kein Beobachtungsobjekt. Aber wir schauen sehr genau auf die offenen Informationen, Medienberichte und Stellungnahmen aus der Partei. Dazu gehört zum Beispiel das Parteiprogramm mit seinen Aussagen und die aktuellen Äußerungen von Vertretern der Partei. Auch die Frage, ob bekannte rechtsextreme Personen in der Partei aktiv sind, wird von uns geprüft. Derzeit sind die Voraussetzungen für eine Beobachtung nicht erfüllt.
Und wann wären diese erreicht?
Wenn für uns extremistische Züge erkennbar sind, das heißt, wenn die Partei mit ihren Handlungen und erkennbaren Zielen eines oder mehrere der Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt bzw. bekämpft.
Tut sie das nicht, etwa mit dem Ruf nach Einschränkung der Religionsfreiheit für Muslime, mit Äußerungen gegen Geflüchtete und Migranten, die mindestens die Würde des Menschen verletzten?
Die Äußerungen zum Islam, gegen Flüchtlinge und politisch Andersdenkende sind für uns erste ernstzunehmende Anhaltspunkte. Wir prüfen derzeit, ob sich daraus eine veränderte Bewertung ergibt.
Der linksliberale Verfassungsrechtler Helmut Ridder hat einmal über den Verfassungsschutz gesagt, dieser mache seine eigene Ideologie zur monopolistischen Staatsideologie und verschaffe sich so ein Instrument vor allem gegen jene, die nicht die Demokratie abschaffen wollen, sondern eine sozial gerechtere, eine auch in die Ökonomie sich erstreckende echte Demokratie wollten.
Ich teile diese Einschätzung nicht, würde mir aber wünschen, dass wir viel mehr über solche Fragen reden und dass dies eine Diskussion wird, die nicht nur ein paar Leute im Elfenbeinturm interessiert. Es würde die Demokratie sogar stärken, wenn wir einmal offen darüber debattieren, ob wir mit diesen Extremismusbegriffen überhaupt noch die aktuellen Problemlagen und Bedrohungen erfassen. Für die praktische Arbeit des Verfassungsschutzes hat diese Diskussion aber kaum Auswirkungen.
Warum nicht?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Von Rechts wird gezielt mit Übertretungen provoziert - einen Schritt rüber über die Grenze des politisch Erlaubten, dann wieder ein Schritt zurück. Denken Sie an die AfD-Schießbefehl-Debatte, an Äußerungen über Migranten. Im Ergebnis hat das zu einer wachsenden Enthemmung und Gewaltbereitschaft in der Mitte der Gesellschaft geführt - aber keineswegs nur in einem Milieu, das wir bereits als rechtsextremistisch auf dem Radar hatten. Zwei Drittel der festgestellten Täter bei rechten Gewalttaten sind zuvor weder dem Staatsschutz noch dem Verfassungsschutz bekannt gewesen. Wir haben es mit völlig neuen Leuten zu tun, teils aus der Mitte der Gesellschaft. Hier stößt dann auch die alte Extremismus-Logik an Grenzen.
Sie sind seit einem halben Jahr im Amt. Haben Sie den Schritt nach Erfurt schon bereut?
Überhaupt nicht. Ich bin ja nicht hierher gegangen, weil ich meine Rentenansprüche sichern wollte. Und dass das Amt nach der NSU-Katastrophe kein Platz an der Sonne sein würde, wusste ich vorher.
Als Sie eingestiegen sind, hat man Ihnen Unerfahrenheit vorgeworfen. Ist das ein Problem, wenn man einen Apparat umkrempeln will?
Für mich war es kein Problem, denn ich bin es gewohnt mich auf neue Herausforderungen rasch einzustellen. Ob es für andere eines ist, dürfen Sie mich nicht fragen. Abgesehen davon wird man nicht als Verfassungsschützer geboren. Das ist ja keine bei der Handelskammer zertifizierte Ausbildung. Insofern sammelt man die Erfahrung in der Tätigkeit. Hilfreich ist, dass ich hier in Erfurt in meinem Haus, aber auch in der Landesregierung und im Verbund der Verfassungsschutzämter sehr viel Unterstützung erfahren habe und erfahre. Schließlich kam der Vorwurf der Unerfahrenheit von denselben Leuten, die vorher ganz zu Recht kritisiert haben, dass es zu wenig Quereinsteiger gibt und in den Verfassungsschutzämtern ein ungesundes Eigenleben herrscht. C’est la vie!
Sie haben nicht die Sorge, dass der Apparat Ihre Bemühungen um Reformen aussitzt?
Natürlich hatte auch ich diese Befürchtung. Und wenn es gar keine Widerstände geben würde, dann würde auch mein Bild vom Behördenleben enttäuscht. Aber im Ernst: Es geht hier nicht um eine One-Man-PR-Show, sondern darum, bestehende Defizite Schritt für Schritt zu beseitigen und den Verfassungsschutz fit für die Zukunft und seine Aufgaben zu machen. Das schaffen wir nur gemeinsam.
Ist man bei Rot-Rot-Grün noch froh über Ihre Bestallung? Sie haben sich mit Vorstößen für eine Ausweitung der Befugnisse des Amtes mehrfach Ärger von Seiten der rot-rot-grünen Koalition eingehandelt.
Korrektur: Ich habe keine Ausweitung der Befugnisse des Amtes gefordert, sondern nur auf Defizite bei der Wahrnehmung der bestehenden hingewiesen. Ich bin aber der falsche Adressat für Ihre Frage. Das müssen andere beurteilen. Alle Beteiligten wussten vorher, dass ich ein Mann der deutlichen Aussprache bin und Probleme klar benennen werde. Ich bin weder Opportunist, noch suche ich Streit um des Streites Willen und ich kenne auch meine Rolle als Behördenleiter. Klar: Da muss dann auch ich einmal Kritik einstecken. Aber nur mit offenem Visier können wir Vertrauen in diese Behörde wieder aufbauen. Das versteht auch die Politik.
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