Türkische Medien machen Deutschland für Istanbul-Anschlag verantwortlich

Präsident Erdogan setzt Immunitätsaufhebung der Parlamentsabgeordneten in Kraft / Erneuter Anschlag mit mindestens drei Toten im Südosten des Landes / Regierung gibt PKK für zweiten Angriff die Schuld

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Update 16.30 Uhr: Dagdelen: »Jagdsaison auf demokratische Opposition eröffnet«
Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, kritisierte die Immunitätsaufhebung als Eröffnung der »Jagdsaison auf die demokratische Opposition«. 50 von 59 HDP-Parlamentariern solle der Prozess gemacht werden, darunter den Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Würden als als »verlängerter Arm der PKK« belangt, verlören sie ihre Sitze im Parlament. »Erdogans AKP würde damit per Putsch erreichen, was ihr in demokratischen Wahlen nie gelang. Sie käme auf die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zur Änderung der Verfassung und würde ein autoritäres Präsidialsystem installieren«, so Dagdelen.

Zu den Vorwürfen der AKP-nahen Zeitung »Günes«, Deutschland sei für das Attentat vom Dienstag verantwortlich, sagte die Bundestagsabgeordnete: »Politische Verantwortung für das Attentat tragen der türkische Präsident und seine AKP-Regierung. Ihr Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten ist täglicher Terror.« In dem die Bundesregierung und die EU das nicht klar benennen und weiter an ihrem Partner Erdogan festhielten, würden sie jedoch tatsächlich Mitverantwortung dafür tragen, dass sich die Gewaltspirale in der Türkei immer weiter und immer schneller drehe. »Die türkische Führung läuft politisch Amok«, sagte Dagdelen.

Update 15.45 Uhr: Erdogan-Sprecher: Türkei bereitet Maßnahmen gegen Deutschland vor
Nach der Völkermordresolution des Bundestags zu den Massakern an den Armeniern will die Türkei nach offiziellen Angaben Protestmaßnahmen gegen Deutschland ergreifen. »Die zuständigen Behörden, allen voran das Außenministerium, bereiten einen Aktionsplan vor«, sagte der Sprecher von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, Ibrahim Kalin, am Mittwoch bei einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz in Ankara. Die vorgeschlagenen »Maßnahmen« würden dann dem Ministerpräsidenten und dem Präsidenten vorgelegt. Details würden erst danach mitgeteilt. Die Türkei hatte vehement gegen die Bundestagsresolution protestiert.

Türkische Medien machen Deutschland für Istanbul-Anschlag verantwortlich

Istanbul. Die Lage in der Türkei spitzt sich bedenklich zu. Nur einen Tag nach einem verheerenden Bombenattentat in Istanbul sind bei einem erneuten Autobombenanschlag auf eine Polizeiwache im Südosten des Landes mindestens drei Menschen getötet und 30 weitere verletzt worden. Bislang meldeten die Behörden, dass ein Polizist und zwei Zivilisten ums Leben gekommen sind, erklärte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am Mittwoch. Er machte die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für die Tat verantwortlich.

Für den vorherigen Bombenanschlag in Istanbul mit mindestens elf Toten hatte dagegen die regierungsnahe türkische Zeitung »Günes« überraschenderweise am Mittwoch Deutschland die Schuld gegeben. »Deutsches Werk«, lautet die Schlagzeile auf der Titelseite. Bisher hat sich noch keine Gruppe zu dem Angriff bekannt.

Am Wahrheitsgehalt der Behauptung wird jedoch gezweifelt: »In der Türkei passiert es relativ häufig, dass nach Anschlägen absurde Behauptungen erhoben werden. Bereits in der Vergangenheit wurden Terrorgruppen erfunden oder von der Regierung behauptet, dass der IS und die PKK gemeinsam eine Terrorattacke durchgeführt hätten«, sagte der Politikwissenschaftler und Journalist Ismail Küpeli gegenüber »nd«. »Bisher wurden solche Vorwürfe aber nur gegen den politischen Gegner gerichtet. Neu ist, dass sie auch gegenüber befreundeten Staaten erhoben werden.«

Dies entspreche aber der politischen Lage nach der Armenien-Resolution des deutschen Bundestages, so Küpeli. »Die Tonlage ist schärfer geworden. Die betreffende Zeitung gibt eins zu eins die AKP-Meinung wieder.«

Auch die Repression gegen politische Gegner innerhalb der Türkei nimmt derweil zu. Am Dienstagabend setzte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Reform zur Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten in Kraft. Der AKP-Politiker unterzeichnete die umstrittene Verfassungsänderung, die von der Mehrheit im Parlament im Mai beschlossen worden war.

Das Ziel ist für Küpeli offensichtlich: »Durch eine Festnahme der Führungsriege soll die HDP als politische Kraft zerschlagen werden«, sagte der Türkei-Experte. »Damit würde auf kurdischer Seite die letzte friedliche Stimme verstummen. Die HDP war der Versuch, auf parlamentarischen Weg die Kurdenfrage zu lösen. Der Konflikt wird nun schärfer, profitieren werden die militanten Kräfte«.

Gleichzeitig zum Vorgehen gegen die HDP scheinen nationalistische Ressentiments in der türkischen Bevölkerung zuzunehmen: Die AKP-nahe Zeitung »Günes« berichtete am Mittwoch in einem Beitrag über den Istanbul-Anschlag, Deutschland habe die harte Reaktion der Türkei auf die »beschämende« Völkermordresolution des Bundestages nicht ertragen. »In Panik geratend, ist es in alte Gewohnheiten zurückgefallen. Es hat die Terrororganisationen, die es als Marionette benutzt, einen blutigen Anschlag in Istanbul verüben lassen.« Das Blatt beruft sich dabei auf Volkes Stimme: »So denkt die Türkei«, schreibt »Günes«. Mit einer Auflage von gut 10.000 Exemplaren gehört das Medium zu den zehn größten Zeitungen des Landes.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu unterstellte am Dienstag zusätzlich, deutsche Medien würden in ihrer türkeifeindlichen Berichterstattung gesteuert. »In Deutschland wird nichts dem Zufall überlassen«, sagte er dem Staatssender TRT. »Keine von den türkeifeindlichen und Recep-Tayyip-Erdogan-feindlichen Schlagzeilen ist Zufall. In Deutschland ist auch die Presse nicht frei.«

Cavusoglu sagte weiter: »Es kann kein Zufall sein, dass die Zeitungen im Spektrum von ganz rechts bis ganz links am selben Tag mit denselben Schlagzeilen gegen die Türkei und gegen Recep Tayyip Erdogan schreiben. Also in Deutschland ist alles systematisch. Und diese Resolution ist in den Bundestag in dieser Systematik im Rahmen eines Planes eingebracht worden.«

Die Intention dieser Rhetorik dient laut Küpeli machtpolitischen Interessen: »Die nationalistische Karte funktioniert für Erdogan. Der Krieg gegen die Kurden ist ein Baustein, die Leugnung des Genozids an den Armeniern ein anderer.« Die Behauptung der Regierung, ausländische Mächte würden der türkischen Nation schaden wollen, helfe dabei. Sowohl von der parlamentarischen Opposition wie auch von der türkischen Gesellschaft habe es zu wenig Protest und Widerstand gegeben. »Auch in seiner Kritik an Deutschland kann Erdogan auf eine Mehrheit der Bevölkerung setzen.«

Die umstrittenen Behauptungen von »Günes« und AKP-Politikern haben laut Küpeli aber auch Auswirkungen auf Deutschland: Türkischstämmige Landsleute würden als Folge gegen türkische Mandatsträger, die sich kritisch äußern, aufgebracht. Küpeli zeigt sich besorgt: »Die Feindschaft ist bereits da. Welche Folgen sie haben wird, ist noch unklar.« Mit Agenturen

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