Ein Haus zum Wärmetausch
Der Bürgerverein Messemagistrale in Leipzig sorgt für Zusammenhalt im Kiez. Er bringt Alt und Jung, alteingesessene und neue Bewohner zusammen - seit genau 25 Jahren. Von Hendrik Lasch
Die Kugel rollt. Besser: Sie schießt wie ein Blitz laut bollernd zwischen den Beinen der Fußballer umher. Lisa Wagner hat die Männer im Griff. Sie reißt mit der richtigen Mischung aus Kraft und Gefühl an den Drehgriffen, bringt ihre Abteilung Angriff zum Tanzen und jagt die Metallkugel ins Gehäuse: Tor! Die »Kickerqueen« von der Messemagistrale hat wieder zugeschlagen.
Im Raum nebenan schieben sie eine ruhigere Kugel. Statt energischer Gesten gibt es konzentrierte Blicke in Hände voller Karten - und Duelle, die mit knapp gemurmelten Zahlen ausgetragen werden: 18, 20, zwo, vier? »Ich gehe ohnehin bis 72«, sagt Ruth Uhlmann mit demonstrativer Gelassenheit, »ich spiele einen Grand.« Ihr Gegenüber hebt verzweifelt die Schultern. Ein Null Ouvert Hand - nur leider kommt sie nicht zum Zug.
Lisa Wagner ist 16, Ruth Uhlmann wird 83 Jahre alt. Als die heutige Realschülerin zur Welt kam, war die Philosophielehrerin, die einst an der Leipziger Uni unterrichtete, schon in Rente. Sie sind quasi Nachbarinnen: Beide wohnen in einem der elf Stockwerke hohen Häuser an der »Straße des 18. Oktober« in Leipzig, die viele nur »Messemagistrale« nennen. Dennoch leben sie im Alltag in verschiedenen Welten: die junge Frau in einer, die sich um Musik, Kumpels, den Kicker und - unumgänglich - die Schule dreht; die Rentnerin in einer, in der viel Zeit für Lesungen, Musikveranstaltungen und Politik bleibt, die auch davon geprägt ist, dass Kräfte nachlassen und Beschränkungen in Kauf zu nehmen sind. Uhlmann geht nur langsam am Stock durch den Flur, der den Kickerraum und das Zimmer der Skatfreunde verbindet.
Hier aber treffen sie sich: im Haus des Leipziger »Bürgervereins Messemagistrale«. Ein äußerlich nüchterner Flachbau zwischen hohen Wohnblocks, der ursprünglich eine technische Funktion hatte: »Das war eine Wärmeumformstation«, sagt Bärbel Dittrich, die Vizechefin des Vereins. Auf alten Fotos sind dicke Rohrleitungen und große Pumpengehäuse zu sehen, die in den Räumen bis zur Decke reichten. Sie sorgten dafür, dass die Fernwärme auch in den obersten Etagen der Häuser ankam, die ab Ende der 1960er Jahre zwischen Bayerischem Bahnhof und dem Areal der Messe errichtet und von vielen jungen Familien mit vielen Kindern bezogen wurden. Dittrich zog im Januar 1971 ein. Sie sei, sagt die einstige Lehrerin für Geschichte, Deutsch und Staatsbürgerkunde augenzwinkernd, »quasi eine Ureinwohnerin«.
Um die Wohnhäuser zu beheizen, wird die Umformstation nicht mehr benötigt. Gebraucht wird sie freilich für einen anderen Zweck, der, so könnte man sagen, auch mit Wärme zu tun hat, allerdings nicht im physikalischen, sondern im sozialen Sinn. Es geht um Gemeinschaft, Nähe, Zusammenhalt. Im Viertel wohnen heute viele Rentner: Menschen, die vor mehr als 40 Jahren zur gleichen Zeit eingezogen und zusammen älter geworden sind, wie Dittrich sagt. Zudem aber sind in den vergangenen Jahren wieder junge Familien zugezogen, von denen viele in alles andere als begüterten Verhältnissen leben müssen. »Die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, stammen zu 70 Prozent aus sozial schwachen Familien«, sagt Uta Knospe, die beim Verein formal als Leiterin des Jugendclubs beschäftigt, eigentlich aber wohl eine Art gute Seele des gesamten Hauses ist. Sie kann zudem Statistiken zum Sozialraum quasi aus dem Effeff hersagen und berichtet, dass der Kiez mit 41,9 Prozent den höchsten Anteil an ausländischen Einwohnern in Leipzig habe. Dafür sorgen die Studenten, die in Wohnheimen gleich um die Ecke untergebracht sind, aber auch Familien von Zuwanderern - und Asylbewerber, die seit vorigem Jahr in der ehemaligen Schule gleich neben dem Gebäude des Bürgervereins leben.
Dessen zentrales Anliegen ist, dass all diese vielen Menschen mit ihren höchst unterschiedlichen Interessen, Problemen und Lebenssphären nicht nebeneinander her wohnen, sondern zusammenleben. »Wir wollen, dass Bürger ihr Miteinander gestalten«, so formuliert es Bärbel Dittrich. Es ist ein Anliegen, das im Viertel gewissermaßen Tradition hat. Die Anwohner der Messemagistrale, zu denen ursprünglich Wissenschaftler von der Uni ebenso gehörten wie Arbeiter aus Leipziger Betrieben, hätten seit jeher viel gemeinsam geschafft, sagt Dittrich: »Wir haben uns um die Außenanlagen gekümmert, wir haben gemeinsam gearbeitet und gemeinsam gefeiert; das hat zusammengeschweißt.« Organisiert wurden viele Aktivitäten von einem so genannten »Wohngebietsausschuss« der Nationalen Front. Dieser Zusammenschluss von Parteien und Massenorganisationen der DDR löste sich mit deren Ende allerdings auf; das gesellschaftliche Leben im Wohngebiet drohte einzuschlafen. Das suchten einige Engagierte zu verhindern: »Wir wollten nicht, dass das alles den Bach heruntergeht«, sagt Dittrich. So entschloss man sich, die Angelegenheit in eigener Regie und ohne organisatorischen Überbau weiterzuführen, und gründete im Juni 1991 den Bürgerverein Messemagistrale. Das Modell hat bis heute getragen: Ab Montag wird mit einer Festwoche das 25-jährige Bestehen gefeiert. Auf dem umfangreichen Programm stehen ein Festempfang und eine feierliche Mitgliederversammlung, dazu ein Chorkonzert, eine Lesung mit Peter und Franz Sodann, ein »Sport- und Spieltag« und schließlich ein Erzählcafé unter dem Titel: »Der Bürgerverein - mein zweites Zuhause«.
Das »Erzählcafé« ist eigentlich eine Veranstaltung für Rentner; Gelegenheit zu Plauderei und Gespräch für Menschen, die zu Hause zum Teil niemanden mehr haben zum Reden. Zu dem Thema der kommenden Woche hätte allerdings vermutlich auch die »Kickerqueen« Lisa Wagner einiges beizusteuern. Sie sei praktisch jeden Tag außer am Wochenende hier: »Das ist besser als zu Hause«, sagt die 16-Jährige knapp. Ihre Freundin Jenny Mayedo, die vor dem Match am Kicker mit einem dicken Buch auf einem gemütlichen Sofa in der Ecke saß, kommt schon seit fünf Jahren fast jeden Tag nach der Schule hierher; sie habe »praktisch alle Freunde hier kennengelernt«, sagt sie. Mit den Leuten im Verein, lässt sie durchblicken, könne sie über manche Dinge sogar besser reden als mit der Familie. »Wir sind«, sagt Uta Knospe, »für viele eine Art Elternersatz.«
Die Art »Familie« funktioniert freilich nur, wenn viele mit anpacken und sich engagieren. Das gilt für junge Leute wie die 18-jährige Mayedo, die ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert und im Verein nicht mehr nur Angebote in Anspruch nimmt, sondern auch selbst mit anpackt: Sie stehe immer mal hinterm Tresen und gebe Essen aus, sagt sie. Auch Ruth Uhlmann kommt nicht nur zur dienstäglichen Skatrunde, sondern gehört seit vielen Jahren auch dem Verein an. Dessen Mitglieder, sagt Vizechefin Dittrich, sorgten Mitte der 1990er Jahre überhaupt erst dafür, dass es ein Vereinsdomizil gibt: Sie bauten die vom Energieversorger grob entkernte Umformstation zum Bürgerhaus um, mit »Enthusiasmus, der nicht in Worte zu fassen ist«, sagt sie. Damals war Dieter Bertram als Ehrenvorsitzender die treibende Kraft; heute wird der Verein von Wolfgang Denecke geleitet, der auch lange Jahre Stadtrat für die LINKE war. Er und seine Kollegen stecken enorm viel Zeit in den Verein, der darüber hinaus nur zweieinhalb Stellen besetzen und hin und wieder einige Menschen beschäftigen kann, die das Arbeitsamt vermittelt und bezahlt. »Ohne viel Ehrenamt und viele Überstunden«, sagt Uta Knospe, »läuft hier gar nichts.«
Gemessen daran, läuft in dem Haus an der Messemagistrale jedoch enorm viel. Es gibt den Jugendclub, der täglich außer an Wochenenden seine Tür öffnet und auch über einen Fitnessraum verfügt; es gibt den Bürgertreff für die Älteren, in dem Computerkurse ebenso stattfinden wie Seniorentanz, Yoga und Frauenfitness. Regelmäßig wird zu Lesungen und Konzerten eingeladen; prominente Gäste waren die Autoren Landolf Scherzer, Ernst Röhl und Gisela Steineckert und die Sängerin Veronika Fischer. Es gibt gemeinsame Aktivitäten mit einem deutsch-französischen Bildungszentrum in der Nachbarschaft, es gibt einen regelmäßigen Spendenlauf für ein Mädchenbildungsprojekt in Afrika, und es gibt politische Veranstaltungen - sowie zuletzt Informationsrunden anlässlich der Unterbringung von 150 Asylbewerbern in der benachbarten Schule.
Es wird nicht verwundern, dass der Verein seine Türen auch für diese öffnet. Der Billardtisch im Vorraum ist inzwischen bis spät abends dicht von Flüchtlingen umlagert. Die jugendlichen Stammgäste gehen wie selbstverständlich auf diese zu; Lisa Wagner und Jenny Mayedo fordern sie zum Match am Kicker heraus. Auch unter den Rentnern gebe es kaum Skepsis oder Vorbehalte, sagt Ruth Uhlmann. »Hier kann man sich nicht aus dem Weg gehen«, sagt Uta Knospe. Es scheint, als sei die ehemalige Umformstation für Wärme auch nach 25 Jahren in jeder Hinsicht intakt.
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