Kein Gesicht, keine Partei
Tragödie der Sozialdemokraten, Niedergang der Kommunisten. Bernard Sander über die Krise der alten Linken in Frankreich
Wie sehr die Franzosen mittlerweile ihre Politiker verachten, die linken unter diesen eingeschlossen, konnte man bei der jüngsten Nachwahl zur Nationalversammlung beobachten: Die Wahlbeteiligung lag bei nur noch 22,5 Prozent. Wieder und wieder hat sich in den vergangenen Jahren die wachsende Parteienverdrossenheit gezeigt, und sie betrifft nicht zuletzt das Mitte-Links-Lager: Bei den Regionalwahlen Ende 2015 wurden die Sozialdemokraten der Parti Socialiste mit 23,3 Prozent abgefertigt, die Grünen mussten eine Halbierung ihrer Zustimmung hinnehmen. Und die Linke der Linken erhielt die Quittung für Zwietracht und Sektierertum: Die Kommunisten erreichten nur noch 1,56 Prozent, das Wahlbündnis Front de Gauche 2,52 Prozent, linke Listenverbindungen mit den Grünen bekamen 2,82 Prozent und die radikale Linke blieb bei 1,54 stecken. Eine Renaissance der französischen Linken zeichnet sich derweil nicht ab. Und die Umfragen für die Präsidentschaftswahl in knapp einem Jahr verheißen nichts Gutes.
Mit großen Hoffnungen hatten die Franzosen 2012 den rechtsbürgerlichen Nicolas Sarkozy und seinen Pakt der Leistungswilligen abgewählt, weil er an der Bewältigung der sozialen Folgen der Großen Krise nach 2008 kein Interesse zeigte. Der sozialdemokratische Kandidat François Hollande eröffnete damals seinen Wahlkampf mit den Worten: »Mein wahrer Gegner hat keinen Namen, kein Gesicht, keine Partei. Er wird niemals seine Kandidatur bekanntgeben. Er wird niemals gewählt werden. Und trotzdem regiert er. Mein Gegner, das ist die Finanzwelt.« Es waren nicht zuletzt die zusammen rund 11 Prozent der linken Kandidaten jenseits der Parti Socialiste, die ihm in der zweiten Runde zum Sieg verhalfen.
Hollandes Rede von Le Bourget aus dem Jahr 2012 markiert die Höhe, von der aus die Sozialdemokraten mit ihrem umstrittenen Arbeitsgesetz von 2016 gefallen sind. Auch gegen das Gewicht der Bundesregierung in den EU-Institutionen blieb Frankreich zahnlos. Es gelang der Regierung Hollande weder, in der Frage der Umschuldung für Griechenland Akzente zu setzen, noch eine Lockerung der fiskalischen Fesseln oder gar ein Ende der Sparpolitik beziehungsweise einen europäischen Wachstumsimpuls durchzusetzen.
Stattdessen kochten wechselnde Wirtschaftsminister mit der Mehrheit aus Parti Socialiste und Grünen nach den neoliberalen Rezepten, deren Geschäftsgrundlage doch längst brüchig geworden war. Steuererleichterungen von 41 Milliarden Euro und die Verallgemeinerung der Sonntagsarbeit sorgten nicht dafür, dass das Wachstum anzog oder die Erwerbslosigkeit unter zehn Prozent sank. Im Gegenteil: Frankreich verliert beständig Industriearbeitsplätze. Der Beitrag des produzierenden Gewerbes zum Bruttoinlandsprodukt sank zwischen 2000 und 2014 von 15,7 Prozent auf 11,2 Prozent. Doch linke Kräfte wie die kommunistische PCF, die Gewerkschaften oder die linke Parti de Gauche können nur ein Verteilungsproblem zwischen Profit und Löhnen erkennen.
Als am 3. Mai 1936 in einem von Faschisten umlagerten Frankreich die Volksfrontregierung an die Macht gewählt wurde, kürzte sie die gesetzliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden und führte den bezahlten Urlaub ein. Heute, achtzig Jahre danach, macht sich Präsident Hollande daran, die eigenen Errungenschaften wie die 1998 eingeführte 35-Stunden-Woche abzuwracken, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, das Verhandlungsmandat der Gewerkschaften zu schwächen und Belegschaften erpressbar zu machen. Die Gewerkschaften, mit ihrem Organisationsgrad von etwa 9 Prozent im Privatsektor und 20 Prozent im öffentlichen Sektor, laufen Sturm gegen den Rückfall ins 19. Jahrhundert. Sie versuchen Masse durch Militanz zu ersetzen. Und: Sie haben die Sympathien der Bevölkerungsmehrheit auf ihrer Seite. Doch Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der nicht Mitglied der Parti Socialiste ist, will »noch weiter« gehen als Ministerpräsident Manuel Valls, der unlängst verlangt hatte, Frankreich müsse »mehr arbeiten, um weniger zu verdienen«.
Die hier nur kurz geschilderte Tragödie der Parti Socialiste ist die vieler ehemals sozialdemokratischer Parteien. Sie suchten als Defensivreaktion auf die Weltwirtschaftskrisen nach 1974/75 im Kreis der bürgerlichen Mitte ihr Heil. Die Mehrheitsfähigkeit in einer sich wandelnden Wählerschaft sollte erhalten werden, dabei folgte man scheinbar den Bedürfnissen der durch ihre eigenen Erfolge abgesicherten Kernbelegschaften und modernen Dienstleister beim Staat.
Als die Sozialdemokraten aber nach Jahren des Sparens und Durchwurstelns erkannten, dass sich die ökonomischen Strukturen zu einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus gewandelt hatten, versuchten sie darauf mit einem neuen Gesellschaftsentwurf gestaltend Einfluss zu nehmen. Der so genannte Dritte Weg sollte die eigenen Wählerschichten in die Eigentümergesellschaft führen, in der Studienkredite, Wohneigentum, kapitalbasierte Altersvorsorge und die juristische Anerkennung neuer Lebensformen aus jeder und jedem den Schmied des eigenen Glücks machen sollten.
Die französische Sozialdemokratie hatte schon in den 1970er Jahren zu spät gestaltenden Einfluss auf die fordistische Wirtschaft und Gesellschaft zu nehmen versucht. Der Versuch, die darin liegenden Potenziale in einen »Sozialismus in den Farben Frankreichs« zu überführen, scheiterte an den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen einer Überakkumulationskrise, der galoppierenden Inflation und der immer erfolgreicher werdenden deutschen Exportwirtschaft. Heute aber ist es noch weit schlimmer: Die Parti Socialiste ordnet die Notwendigkeiten von Globalisierung und Arbeitsplatzabbau in allgemeine Modernisierungserfordernisse und nationale Standortlogik ein, in der sich deren Opfer weder als »unterdrückte Klasse«, noch als Träger eines Projekts, noch als zukünftige Nutznießer wiederfinden.
Ein mehr oder weniger großer Teil der Sozialdemokraten behielt jedoch ein Bewusstsein davon, dass die lohnabhängigen Schichten von gesellschaftlichen Umverteilungssystemen abhängig bleiben, und dass es die Aufgabe des (Sozial-)Staates ist, nicht nur gleiche Startchancen zu garantieren, sondern auch die Früchte der Arbeit anders zu verteilen. Sie machen in der aktuellen Parlamentsfraktion der Parti Socialiste 30 bis 40 Abgeordnete aus. Einige haben bereits neue Kleinstparteien gegründet.
Mit der Durchsetzung der umstrittenen Arbeitsgesetze per Notverordnungsparagraph gegen den Willen der Mehrheit in Bevölkerung und Parlament sowie gegen anhaltenden Protest auf der Straße dürfte aber auch für die Opposition innerhalb der Parti Socialiste klar geworden sein, wie groß ihr Spielraum noch ist.
Der Sozialstaat des Rheinischen Kapitalismus war nicht das Projekt der Sozialdemokratie, sondern das Resultat jahrzehntelanger sozialer Kämpfe der eigentumslosen Schichten und der Reaktionen herrschender Kräfte zur Beruhigung der Lage. In Frankreich war allerdings ein Konsens fixiert worden, mit dem die verschiedenen Kräfte des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg sich vertraglich zu weitreichenden Sozialreformen nach der Niederwerfung des Faschismus verpflichteten.
Als sich die kommunistische PCF in den Großbetrieben des Fordismus und der Peripherie der Großstädte verankerte, die man heute den gottverlassenen »französischen Wilden Westen« nennt, stützte man sich noch auf eine vage Erwartung von Revolution und sozialer Republik. Man praktizierte eine eigenständige Kommunalpolitik im sehr lebendigen Einklang mit einer Lohnarbeitergesellschaft, eine Umverteilung zu den benachteiligten und diskriminierten Gruppen der Arbeitswelt gelang. Der Aufstieg des Kommunismus war ein Aufstieg der Banlieue, der Stabilisierung seines Beschäftigtenstatus, seiner Würde und des proletarischen Stolzes.
Die kommunistische Verwaltung wurde jedoch mit ebenso voller Wucht vom Rückzug des Wohlfahrtsstaates, vom Sinken der öffentlichen Ausgaben und von der relativen Umverteilung getroffen. Die Folgen treffen nun die sozialdemokratischen »Täter« ebenso wie die Linke der Linken, die sich erfolgreich an der Verwaltung dieses Sozialstaats beteiligt hatte.
Mit der Weltwirtschaftskrise 1975 wuchs die PCF zur zweitstärksten kommunistischen Partei in Westeuropa heran - 1978 holte sie über 20 Prozent bei den Wahlen. Aber je länger die Krise dauerte, desto deutlicher wurden die Verluste: 1981 waren es nur noch gut 16 Prozent, nach dem Austritt aus der Linksunion (die PCF war 1981 bis 1984 an der Regierung von Pierre Mauroy beteiligt), sackte sie auf 11 Prozent ab.
Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der Krise der kommunalen Basis wurde sie mit ihrem auf Mandatsüberweisungen angewiesenen Apparat Gefangene der Sozialdemokraten - denn nur durch deren Stimmübertragungen im jeweils zweiten Wahlgang gelang es, überhaupt noch nennenswert kommunistische Mandate auf den verschiedenen Ebenen zu besetzen. Das machte eigenständige Politik immer schwieriger.
Der linke Publizist Emanuel Todd bilanzierte diese Entwicklung in drastischen Worten: Frankreich habe dadurch »einen gewaltigen Kulturapparat« verloren, der »in den einfachen Schichten den Glauben an Fortschritt und Bildung lebendig erhielt« und für »das Vertrauen in das Universelle sowie die Zurückweisung der Fremdenfeindlichkeit« mitentscheidend war.
Es war nicht zuletzt die Schwäche der PCF, die den Weg in das Wahlbündnis Front de Gauche ebnete. Es war aber auch die Schwäche der anderen Kräfte links der Sozialdemokratie. Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 waren neben den Kommunisten auch noch die ökologischen Globalisierungskritiker und die trotzkistische LCR angetreten - und mit jeweils knapp 4 Prozent im Abseits gelandet. Bei den Wahlen von 2007 lief es nicht besser, Konsequenzen wurden - obwohl es gute Beispiele der lagerübergreifenden Kooperation mit anderen Linkskräften etwa gegen den EU-Verfassungsvertrag 2005 gegeben hatte - bis dahin nicht gezogen. Die anhaltende Schwäche lockerte dann jedoch den Widerstand der Traditionskommunisten vor allem aus den alten Montan-Hochburgen der Partei im Norden, die schon immer allen Neuerungen - etwa die Aufgabe des Bezugs auf den Marxismus-Leninismus 1979 oder die Aufgabe des demokratischen Zentralismus 1994 - ablehnend gegenüberstanden.
Mit der Öffnung zu den sozialen Bewegungen und der Bildung der Linksfront Front de Gauche stabilisierten sich die Wahlergebnisse - doch es verkomplizierten sich die Diskussionen in der Partei. Dies wird nicht gerade durch Partner wie die Parti de Gauche erleichtert. Was auch mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen gilt: Während die Kommunisten noch versuchen, sich darüber klar zu werden, ob sie den aus der Zivilgesellschaft kommenden Ruf nach Vorwahlen für die gesamte Linke einschließlich der sozialdemokratischen Parti Socialiste unterstützen, hat Parti-de-Gauche-Gründer Jean-Luc Mélenchon seine Präsidentschaftskandidatur bereits erklärt - ohne dies mit den Partnern in der Linksfront abzusprechen.
Mittlerweile wird das Vorhaben von über 100 000 Menschen unterstützt, darunter auch Hunderte PCF-Mitglieder und Funktionäre aus der Parteiführung. Mélenchon handelte aus einer schwierigen Lage: Er hat früh gespürt, dass Parteien als Organe der Willensbildung verschlissen sind. Auch das Bündnis Front de Gauche aus Zirkeln, Einzelpersonen, Splitterparteien und übergelaufenen Strömungen hatte sich hoffnungslos zerstritten. Dennoch signalisieren die Umfragen nicht einmal so schlechte Chancen. Nachdem die Kommunal-, Europa- und Regionalwahlen für die Listen um Mélenchon enttäuschend verliefen, ist er inzwischen in Umfragen mit 12 bis 13 Prozent dem Amtsinhaber Hollande, der 14 bis 15 Prozent erhält, auf den Fersen.
Der kommunistischen PCF wirft Mélenchon vor, die Methode der Sammlung aufgegeben zu haben. Wahlstimmen zu gewinnen heiße, Bewusstsein zu gewinnen. Sein Projekt wird über den Vertrieb des dünnen Taschenbuchs »Die Ära des Volkes« vorangetrieben - sowie in Internetforen. Darin wird unter anderem für einen Plan B plädiert, mit dem der »Ausstieg aus den Verträgen« zumindest vorbereitet werden soll - gemeint ist die Europäische Union. Dies ist in der eigenen Partei und noch mehr bei den Grünen und den Kommunisten umstritten. Gleiches gilt für ein weiteres Thema von Mélenchon - den Ausstieg aus der in Frankreich so verbreiteten Atomwirtschaft.
Auf die »Aufrührer« in der sozialdemokratischen Fraktion nimmt der Europa-Abgeordnete ausdrücklich keine Rücksicht. Doch Mélenchons auf Polarisierung angelegte Kandidatur ist kein Selbstläufer. Indem er die Parteien auf der Linken zwingt, sich für oder gegen ihn zu entscheiden, gehen alle Beteiligten ein hohes Risiko ein - es könnte sein, dass am Ende neben der Front National weder ein Sozialdemokrat noch ein Linker, sondern wieder nur ein Rechtsbürgerlicher in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl einzieht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!