Alle lieben Berlin
Auftaktbeitrag zu einer sechsteiligen Serie zum Touristenboom
Die Hauptstadt hat eigentlich bereits die Vier-Millionen-Einwohner-Marke geknackt. Zumindest, wenn man die Tagesbesucher mitzählt - durchschnittlich eine halbe Million Touristen täglich, die noch zu den hier gemeldeten 3,5 Millionen Einwohnern hinzugezählt werden können. Sie müssen schlafen, essen, von A nach B kommen. Die Gäste wollen Kultur erleben, Sehenswürdigkeiten besuchen und sich abends amüsieren. Diese Menschen sind von Jahr zu Jahr mehr geworden, 2015 wurde die Marke von 30 Millionen Hotelübernachtungen geknackt. Sie verändern die Stadt, an manchen Orten mehr, an anderen weniger. Sie können lustig sein oder auch nervig. Welchen Einfluss hat der Tourismus, wie ist es, in dieser Industrie zu arbeiten, welche Arten von Tourismus gibt es? Mit diesen Fragen beschäftigt sich »neues deutschland« in den nächsten Wochen in einer sechsteiligen Serie.
»Tourismus ist die größte Industrie in Berlin«, sagt Christian Tänzler, Sprecher von »visit Berlin«, dem modernen Nachfolger des Fremdenverkehrsamtes. Über elf Milliarden Euro hat dieser Industriezweig 2014 nach Angaben der Industrie- und Handelskammer erwirtschaftet. Das sind über zehn Prozent des Berliner Bruttoinlandsprodukts, ein deutlich höherer Anteil als im Bundesvergleich. An die 300 000 Menschen sollen, basierend auf Zahlen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg ihren Lebensunterhalt dadurch bestreiten. Allerdings werden mitzuversorgende Angehörige, die selber nicht arbeiten, dazu gezählt.
Protest gegen immer weiter steigende Besucherzahlen regt sich vor allem in der Innenstadt. Es ist die Partymeile, die sich zumindest am Wochenende von der Simon-Dach-Straße in Friedrichshain über die Revaler Straße und die Warschauer Brücke zum Kottbusser Tor in Kreuzberg und weiter nach Neukölln zieht, die häufig den Unmut der Anwohner auf sich zieht. Nächtlicher Lärm, Scherben, Drogenhandel, Kriminalität, Pinkeln und Kotzen in Hauseingänge, es gibt vieles, das dort lebenden Menschen sauer aufstößt. Dazu verändert sich die Struktur des Gewerbes. Wo früher normale Läden - allerdings auch viel Leerstand - war, reihen sich nun Bars, Kneipen, Restaurants und Spätkäufe aneinander. Dazwischen noch Geschäfte, die reichlich Plunder feilbieten, der vor allem junge Touristenherzen höher schlagen lässt.
»Man darf aber nicht vergessen, dass viele der nächtlichen Besucher aus den Außenbezirken oder dem Umland kommen«, gibt Christian Tänzler zu bedenken. »Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln sind nun mal das Berliner Ausgehzentrum.« Letztlich habe die Mauer in den Bezirken, die in ihrem Schatten lagen, für eine vollkommen unnatürliche Entwicklung gesorgt. »Es waren Biotope.« In den letzten 25 Jahren habe sich wieder der Normalzustand eingestellt.
Was Tänzler aber auch sagt: »An der Warschauer Brücke ist die Grenze überschritten.« Und: »Es gibt Straßenzüge, dort herrscht eine Monostruktur.« Ein Umstand, der auch den Tourismuswerbern nicht hundertprozentig gefällt. »Wir haben Interesse an einer Stadtstruktur, die sowohl Touristen als auch Bewohnern zusagt«, so Tänzler. Es sei nämlich die Authentizität in Gefahr. Das ist das Pfund, mit dem der Hauptstadttourismus wuchert: Das Erleben des Stadtgefühls der Bewohner - oder was man dafür hält - ist die neue Prämisse. »Wir sind gegen Ballermannisierung und Disneyfizierung«, sagt Tänzler.
Die Versuche von visit Berlin, für bessere Stimmung bei den Anwohnern zu sorgen, wirken eher hilflos. Da gibt es die »going local«-App für Smartphones, die Besucher zu Attraktionen in Außenbezirken locken soll. Oder die Internetseite »du-hier-in.berlin«, auf der Berliner Lob und Tadel loswerden können. Oder Runde Tische, die vor allem Verständnis für Touristen wecken sollen.
Zu dem gefühlt authentischen Erleben gehört es auch, im Kiez zu übernachten - also mitten zwischen echten Berlinern. Die Zahl der vielen Ferienwohnungen, für die Mietwohnungen zweckentfremdet wurden, schwankt zwischen 15 000 und 23 000. Das ist rund ein Prozent des Berliner Bestandes. Ein Politikum vor allem deswegen, weil insgesamt zu wenig bezahlbarer Wohnraum in der Stadt vorhanden ist.
»Die Zeiten von zweistelligen Zuwächsen bei den Touristenzahlen sind aber erst mal vorbei«, sagt Tänzler. Angesichts der Weltlage mit politischen und Wirtschaftskrisen sei man Jahr für Jahr überrascht, dass es immer noch Zuwächse gebe. Im ersten Quartal 2016 legten die Zahlen dennoch um 8,1 Prozent zu. Zu den rund 139 000 Hotelbetten, die Ende 2015 vorhanden waren, kommen nach Informationen des Hotel- und Gaststättenverbandes noch 3000 hinzu.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.