Das Vergangene ist nicht tot

Über den Genozid an den Armeniern: »Die vierzig Tage des Musa Dagh« am Münchner Residenztheater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Weiße Flecken fressen sich im Bühnenbild von Irina Schicketanz wie eine ätzende Säure voran. Lauter Fotos von Landschaften und einfachen Leuten, deren Namen niemand mehr kennt. In der Mitte des funktionalen Raums im Marstall des Münchner Residenztheaters sitzen die Zuschauer. Um sie herum wächst ein Rundraum aus solcherart unvollständigen Bildern. Rudimentäre Erinnerung, beschädigte Identität?

Was kann man heute noch wissen vom Schrecken des Massenmords an den Armeniern? Nur einige verblichene Fotos bezeugen Leben, das auf gewaltsame Weise aufhörte. Was fangen wir mit diesen Fragmenten an? Einige ursprüngliche wohl auf den Fotos zu sehende Personen fehlen, sind ausgeschabt, ausgerissen und weggeätzt von der Zeit oder einem bewussten Vergessen-Wollen der Überlebenden.

Hinterher ist dort, wo eben noch dramatisches Geschehen war, nichts mehr als bloße Leere. Ein besonders breiter Riss in der verschlissenen Fototapete zeigt sich, wo der Musa Dagh (der Mosesberg) steht. Es ist ein Riss, der sich durch die Zeit bis in die Gegenwart zieht und Sprachlosigkeit reproduziert. Das Vergessen ist die eigentliche Auslöschung des Geschehenen. So wie das offizielle türkische Geschichtsbild den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern vergessen will. Es war Krieg, so heißt es, die Armenier paktierten mit dem Feind, waren Spione und Saboteure - und außerdem kämpften sie bandenmäßig gegen die türkische Armee. Ort des Geschehens: Anatolien, wo seit Generationen christliche Armenier und muslimische Türken friedlich zusammenlebten. Und plötzlich diese gezielte Vernichtung von Männern, Frauen, Kindern und Greisen.

Wie nähert man sich einem Genozid aus dem historischen Abstand von hundert Jahren? Nuran David Calis ist ein junger erfolgreicher Regisseur, der zuletzt in Leipzig Brechts »Baal« auf spektakuläre Weise inszenierte. Er hat selbst armenisch-türkische Wurzeln, wuchs in Deutschland auf (die Familie lebte jahrelang im Status der Duldung), ging dann in die Türkei und kehrte wieder nach Deutschland zurück. In seiner Familiengeschichte spiegelt sich die türkisch-armenisch-deutsche Geschichte - auch in ihren unauflösbaren dramatischen Verknotungen.

Im Ersten Weltkrieg war die Türkei der Verbündete des Kaiserreichs - und hier war man über die monatelangen Vernichtungsaktionen gegen die Armenier jederzeit bestens im Bilde. Calis entscheidet sich für eine Art Hörstück im fragmentierten Raum von Irina Schicketanz. Eine Ermittlung, die nicht verurteilen, sondern die historische Wahrheit finden will. Darum wählt er einen mehrstimmigen Zugang zum Thema. Historische Dokumente werden verlesen, von sechs Schauspielern, die dann ihre eigene Lesart zum Thema vorstellen. Keine Debatte, kein Streit - aber eben verschiedene Perspektiven auf ein- und dasselbe.

Da sind Ismail Deniz und Simon Werdelis, die ihre türkische und armenische Biographie mit auf die Bühne bringen, da ist der ehe hilflose Versuch von Michaela Steiger, mit Reflexionen über das didaktische Rollenspiel und die Rolle des Schauspielers angesichts der historischen Dokumente (mit aufgemalten Schlagworten auf hochgehaltenen Schildern) eine »weibliche Perspektive« auf die Gewalt in der Geschichte kenntlich zu machen. Grundtenor: Immer sind es Männer, die Kriege anzetteln.

Nun ja, etwas von Workshop hat dieser Abend auch, der nicht auf künstlerische Perfektion zielt, sondern sich zur Tatsache des Genozids ebenso in ein Verhältnis zu setzen versucht wie zu seiner hartnäckigen Leugnung im offiziellen türkischen Selbstverständnis. Die Stärke dieser dokumentarischen Annäherung resultiert daraus, dass hier - gleichsam auf offener Bühne - um Identitäten gerungen wird. »Ich fühle mich nicht schuldig an der Geschichte«, sagt der türkische Schauspieler, der es ungerecht findet, dass immer nur von armenischen Opfern gesprochen wird und nicht von den Türken, die Opfer von Vergeltungsschlägen armenischer Partisanen wurden. Und schließlich hatten sich doch die Armenier in der Türkei auf die Seite des Kriegsfeindes Russland gestellt?

Die Sache ist einerseits einfach, die Unzahl der Toten belegt das - aber andererseits kommt man der Geschichte eben nicht mittels moralischer Schuldzuweisungen bei. Denn hier verweist jeder - auf türkischer wie auf armenischer Seite - auf Opfer in seiner Familie, und was wäre eine historische Wahrheit wert, die nicht das Leid aller mit einbezieht?

Calis macht nun etwas sehr Kluges: Er dokumentiert ebenso ausführlich wie kommentarlos das Tauziehen hinter den Kulissen des Jahres 1915. Die hektisch hin und her gehenden Depeschen entfalten dabei eine unerwartete Dramatik. Wolff-Metternich, deutscher Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel, schreibt am 7. Dezember 1915 an Reichskanzler Bethmann-Hollweg: »Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos. Soll Einhalt geschehen, sind schärfere Mittel notwendig. So soll man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld ... Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert wird.«

Klar wird, wie tief das kaiserliche Deutschland mit drin steckt im von Anfang an verschwiegenen Völkermord an den Armeniern. Der Reichskanzler Bethmann-Hollweg notiert dann auch indigniert: »Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen kann. Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.«

So spricht der sich fortzeugende Zynismus der Macht - und da ist es gut, dass es Archive gibt, die das über wechselnde Zeiten hinweg bezeugen. Vielleicht hätte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, bevor sie der Bundestagsabstimmung über den Völkermord an den Armeniern fernblieb, solche Dokumente, wie sie an diesem Abend in München zu Gehör kommen, auch einmal vorlegen lassen sollen!

Aber es kommt noch schlimmer - und da wird deutlich, dass es nicht darum geht, die heutige Türkei anzuklagen, sondern geschichtliche Einordnungen vorzunehmen -, wenn man weiß, dass Hitler gesagt haben soll: »Dass mit den Juden können wir so machen. Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?« Dass es sich nicht um einen bedauerlichen Kollateralschaden des Ersten Weltkrieges handelt, wussten aufmerksame Zeitgenossen wie Franz Werfel ohnehin. 1930 sah Werfel in Damaskus massenhaft armenische Kinder, deren Eltern von türkischen Soldaten erschlagen worden waren.

Er recherchierte weiter und schrieb 1932 »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, in dem es um 5000 Armenier geht, die sich auf dem Mosesberg verschanzen. Einer der Kernsätze des Buches lautet: »Es handelt sich hier nicht um den Schutz vor einem inneren Feind, sondern um die planvolle Ausrottung einer anderen Nation.«

Ist dieser Abend, der sich auf Werfel nur am Rande bezieht, nun bloß gut gemeintes Bildungstheater, das sich weniger über seine Form, als durch seinen Inhalt einer Relevanz versichert? Nein, Calis ist auch ein Virtuose darin, den historischen Stoff dringlich werden zu lassen. Denn wie schrieb Christa Wolf doch, Faulkner zitierend, in ihren »Kindheitsmustern«: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«

Nächste Vorstellungen: 30.6. und 5.7.

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