»Ulmer Schachtel« als Schlauchboot-Urahn

Das Verkehrsmuseum Dresden zeigt, dass die Geschichte der Migration stets auch eine der Verkehrsmittel war

  • Hendrik Lasch, Dresden
  • Lesedauer: 3 Min.
Schlauchboote sind die Ikonen der aktuellen Flucht nach Europa. Das Verkehrsmuseum Dresden zeigt indes, dass Migration ein altes Phänomen ist - einstmals absolviert per Dampfer oder »Ulmer Schachtel«.

1724 schien Johann Karl Reichard das Gelobte Land erreicht zu haben. »An Nahrung habe ich keinen Mangel, und mir ist alles wohl feil«, schrieb er aus dem Banat in seine Heimat: Krebse, Fische, Hasen und Fasane seien »um ein Geringes zu haben«. Die Ausreise schien sich für den Pfarrer gelohnt zu haben. Er gehörte zu jenen 400 000 Menschen aus Süddeutschland, die im 18. Jahrhundert angesichts grassierender Armut in ihrer Heimat auf den Balkan umsiedelten und später als »Donauschwaben« bekannt wurden. Zur Anreise nutzten sie »Ulmer Schachteln«: Holzboote, deren Material nach der Ankunft praktischerweise zum Hausbau dienen konnte.

Die »Ulmer Schachtel« ist, wie eine am 16. Juni öffnende Sonderausstellung im Verkehrsmuseum in Dresden zeigt, gewissermaßen der Urahn jener Schlauchboote, die zu Ikonen einer aktuelleren Fluchtbewegung geworden sind: der von Millionen Fliehenden aus den Kriegen in Syrien und Afghanistan oder den Armutsregionen in Afrika, die in den fragilen Booten über das Mittelmeer kommen. Die Ausstellung zeigt neben einem Modell der Ulmer Schachtel auch den 15 Meter langen »Dinghy«, der 2015 auf der griechischen Insel Lesbos anlandete. Im Museum wirkt das Boot groß; auf dem Meer dürften sich die Insassen verloren gefühlt haben - zumal das Boot mit 48 statt erlaubter 16 Menschen besetzt war. Immerhin: Sie überlebten, anders als mindestens 4000 Flüchtlinge, die allein voriges Jahr im Mittelmeer ertranken.

»Ulmer Schachtel« und »Dinghy« bilden quasi den Rahmen für eine Schau, die sich mit dem Thema Migration befasst - eines Phänomens, das Menschen seit Jahrhunderten in Bewegung setzte und in aller Regel auch von Verkehrsmitteln abhängig war. Die Siedler, die im Neolithikum aus den fruchtbaren Regionen des Orient in das unwirtliche Mitteleuropa vorstießen, dürften zwar noch zu Fuß unterwegs gewesen sein. Später aber nutzten Auswanderer auch Pferdewagen und Boote. Einen wahren Aufschwung erlebten die Migrationsbewegungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, sagt Joachim Breuninger, Direktor des Museums: Da waren die Dampfschiffe erfunden, die Menschen zu Tausenden über den Atlantik beförderten. Migration war schon damals ein Geschäft: Unternehmen wie der »Norddeutsche Lloyd« wurden eigens dafür gegründet. Wer in Amerika sein Glück machen wollte, wurde dafür kräftig geschröpft: Für eine Überfahrt waren 30 Gulden fällig; dafür musste ein Dienstmädchen drei Jahre arbeiten.

Nicht nur dank solcher Details belegt das Museum, wie sehr sich die Schicksale der Menschen ähneln, die im 19. Jahrhundert von Deutschland nach Amerika aufbrachen und die gut 150 Jahre später aus dem Nahen Osten hier ankommen. Zwar hangelt sich die Schau an den jeweiligen Verkehrsmitteln entlang und stellt diesen Billets, Landkarten mit den Reiserouten oder Bauskizzen zur Seite. Die Schau lässt aber seit breit auch die Menschen zu Wort kommen, die flohen, ausreisten, umsiedelten oder aus freien Stücken umzogen. Migranten früherer Jahrhunderte kommen - wie der Donauschwabe Reichard - in Tagebüchern und Briefen zu Wort; jene der jüngeren Vergangenheit per gefilmtem Interview. Dabei wird klar, dass die Motive sich über die Jahrhunderte gleich geblieben sind, sagt Petra Köpping, die Integrationsministerin in Sachsen: »Es ging und geht um Armut und Elend, um Verfolgung und Krieg, aber auch um Aufstiegswillen und Abenteuerlust«. Die SPD-Politikerin fügt an, dass Migration in den Zielländern oft »Motor für Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung« gewesen sei. Die erste Eisenbahn zwischen Leipzig und Dresden etwa baute mit Friedrich List ein Mann, der aus Württemberg aus politischen Gründen hatte emigrieren müssen und als US-Bürger in die alte Heimat zurückkehrte. Dieses und andere Beispiele zeigen, dass »Arbeitsmigration auch den Aufnahmeländern genutzt hat«, sagt Köpping. Es ist eine Botschaft, die in der Hauptstadt der Pegida-Bewegung nicht oft genug wiederholt werden kann.

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