»Enthemmte Mitte« radikalisiert sich
Studie zu rechtsextremen Einstellungen: AfD als politischer Magnet / Aber auch demokratische Milieus wachsen
Autoritäre Aggressionen gegen Asylsuchende, Muslime und Roma nehmen zu; das rechtsextreme Potenzial radikalisiert sich, die Gesellschaft wird weiter polarisiert. Zudem nimmt »in den vorurteilsgebundenen und autoritären Milieus die Akzeptanz von Gewalt wie auch die eigene Gewaltbereitschaft zu«. Das sind die Kernergebnisse der neuesten Auflage einer Langzeitstudie über »die enthemmte Mitte« der Universität Leipzig.
Eine wichtige Rolle spielt bei dieser Entwicklung die AfD: Dort findet der Teil der Gesellschaft, bei dem schon frühere Ausgaben der »Mitte«-Studien rechtsextreme Einstellungen diagnostizierten, nunmehr »eine politisch-ideologische Heimat«. Diese Menschen würden nun »zum politischen Subjekt, das nicht nur mit Macht die Ideologie der Ungleichwertigkeit enttabuisiert, sondern auch die gewaltvolle Durchsetzung ihrer Interessen für legitim hält«, schreiben die Leipziger Forscher um Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler. Erstmals wurde die Studie in Kooperation mit der gewerkschaftlichen Otto Brenner Stiftung, der LINKE-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung vorgelegt, die den Grünen nahesteht.
Ablehnung von Geflüchteten, Muslimen und LGBT wächst
Unter dem Eindruck einer medial verstärkten Debatte, in der Abwertungen von Asylbewerbern und Muslimen bis ins »etablierte« Parteienlager hinein immer lauter wurden, stieg die Ablehnung von Geflüchteten und Muslimen deutlich an. Über 41 Prozent stimmten der Aussage zu, Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden - das waren fast fünf Prozentpunkte mehr als 2012. Auch der Anteil derer, die nach eigenem Bekunden »Probleme damit« hätten, »wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten«, stieg an - auf nunmehr fast 58 Prozent. Erstmals ermittelt wurde in dieser Auflage der »Mitte«-Studie auch, wie stark Homophobie verbreitet ist: Über 40 Prozent nannten es »ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen«, und fast ein Viertel der Befragten meinte, »Homosexualität ist unmoralisch«.
Immer wieder hatten die »Mitte«-Studien über die Verbreitung rechtsextremen Denkens schon in der Vergangenheit für Schlagzeilen gesorgt. Dies lag vor allem an einer Erkenntnis: Bei den Menschen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild tragen, handelt es sich nicht um ein Problem der »Ränder der Gesellschaft«, sondern die Zustimmung zu rechtsautoritären Diktaturen, zu Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und zur Verharmlosung des Nationalsozialismus ist ein in der »Mitte« der Gesellschaft verbreitetes Phänomen. Vor zwei Jahren wurde die Studie nicht zuletzt wegen des Aufstiegs der AfD interessant. Es hatte sich bereits 2014 gezeigt, dass die Rechtsaußen-Partei wie ein Magnet funktioniert, der Personen mit rechtsextremen Einstellungen anzieht. Dies ist nun noch deutlicher zu sehen: »Rechtsextreme haben in der AfD eine Heimat gefunden«, so die Autoren der Studie in ihrer Präsentation am Mittwoch in Berlin.
Eine »starke Ausprägung« rechtsextremer Einstellungen finde sich auch »unter den Pegida-Anhängern«. Zudem folgen dem rechten Denken »jetzt vermehrt auch Handlungen, zum Beispiel Wahlentscheidungen, Demonstrationen usw.«.
Rechtsextreme wählen vor allem AfD, SPD und Union
Entsprechend fallen auch die Ergebnisse für das Wahlverhalten aus. Die in der Studie als rechtsextrem Bezeichneten nannten zu über 45 Prozent die AfD als ihre parteipolitische Heimat. Deutlich über 19 Prozent der Befragten mit rechtsextremen Einstellungen wählten SPD, fast 15 Prozent die Parteien der Union. Die Zahl derjenigen unter ihnen, die LINKE und Grüne wählen, ist mit 3,7 Prozent bzw. 4,9 Prozent deutlich geringer.
Vor allem der Anteil der Linkswähler mit rechtsextremen Einstellungen ist zurückgegangen, 2014 betrug er noch über sieben Prozent. Die Veränderung zeigt sich noch deutlicher im längerfristigen Verlauf: Wurden zum Beispiel 2006 noch bei gut 30 Prozent der Anhänger von PDS und Wahlalternative ausländerfeindliche Einstellungen gemessen, sind es 2016 noch acht Prozent. Das sind immer noch acht Prozent zu viel, aber nicht nur dieser Wert liegt deutlich unter dem anderer Parteien.
Die aktuelle Studie zeigt, dass gut 20 Prozent der Befragten ausländerfeindlich und über 16 Prozent chauvinistisch denken - ersteres verweist auf die verbreitete Abwertung von anderen, letzteres auf die damit in Zusammenhang stehende, meist nationalistische Aufwertung des Deutschen. Fünf Prozent befürworten eine Diktatur, bei fast ebenso vielen finden sich antisemitische Einstellungen.
Weitere Ergebnisse förderte die Untersuchung zur Verharmlosung der NS-Verbrechen und über den Sozialdarwinismus in den Köpfen zutage. Ein genauer Blick auf die Zahlen zeigt, so der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dass die »klassischen Einstellungsdimensionen des Rechtsextremismus«, also Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus, zuletzt weiter zurückgegangen sind.
Zugleich und gegen den Trend nahmen aber jene Einstellungen zu, die mit rechtspopulistischen Denkweisen verbunden werden - also Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit. Dies vor allem im Westen, wobei die Verbreitung solcher Einstellungen im Osten zum Teil weiterhin höher ausfällt.
»Demokratische Milieus« wachsen
Es gibt aber auch noch eine andere Entwicklung, die in der Studie zum Ausdruck kommt: Die »demokratischen Milieus« werden größer. Die Leipziger Forscher subsumieren darunter jene, bei denen keine der oben genannten sechs Dimensionen rechtsextremer Einstellung manifest ausgeprägt ist. Die »vorurteilsgebundenen und autoritären Milieus« sind in den vergangenen zehn Jahren von über 73 Prozent der Bevölkerung auf nun noch 40 Prozent geschrumpft. Dagegen wuchsen die demokratischen Milieus von knapp 37 Prozent auf nun etwa 60 Prozent.
Das Verhältnis hat sich laut Studie also »nahezu umgekehrt«. Horst Kahrs sieht vor allem die Haltung gegenüber Migranten als den »Kristallisationspunkt, an dem sich demokratische und antidemokratische Milieus voneinander abgrenzen«. Die dabei zum Ausdruck kommende »Willkommenskultur« kann allerdings ganz unterschiedliche Ausprägungen haben. So würden mittlerweile auch »utilitaristische Argumente für die Einwanderung«, etwa als politisches Gegensteuern gegen »Facharbeitermangel« und »demografischen Wandel«, auch in »traditionell gegen Zuwanderung eingestellten Milieus anerkannt«, so der Sozialforscher.
Die neueste Auflage der »Mitte«-Studie könne jedenfalls nicht über »wachsende strukturelle Demokratiedefizite« hinwegtäuschen, sagt Kahrs. So wie auch die Reihe »Deutsche Zustände« von Wilhelm Heitmeyer zeige die Studie, »dass demokratische Einstellungen und Lebensweisen nicht von Natur gegeben oder Nebenprodukte einer liberalen Marktwirtschaft sind«. Eine demokratische Gesellschaft müsse »in die Demokratie investieren« - in Bildung und demokratische Öffentlichkeit.
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