Keine Angst vor dem Willen der Bürger
Bürgerbegehrensbericht 2016: Direkte Demokratie ist kein Hindernis für Flüchtlingsunterkünfte
Über Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene wurde bisher keine Flüchtlingsunterkunft verhindert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Vereins »Mehr Demokratie« und Partizipationsforschern der Universität Wuppertal. »Allen, die versuchen, das Flüchtlingsthema gegen Bürgerbeteiligung auszuspielen, nehmen diese Zahlen den Wind aus den Segeln«, meint Ralf-Uwe Beck, Sprecher von »Mehr Demokratie«.
Insgesamt gab es zwischen 1996 und 2015 deutschlandweit 33 Bürgerbegehren zum Thema Flüchtlingsunterkünfte, davon allerdings 21 im Jahr 2015. Rund ein Drittel der Verfahren wurde für unzulässig erklärt, andere zurückgezogen, mehrere sind noch offen. Fast alle richteten sich gegen eine Unterbringung von Flüchtlingen. In drei Fällen erledigte sich das Begehren, weil der Gemeinderat einen Entschluss im Sinne der Initiatoren fasste. In diesen Fällen waren die Bürger zwar nicht über einen Entscheid, aber indirekt erfolgreich. Die Angst, dass Instrumente der direkten Demokratie von Rechten instrumentalisiert werden, hält Beck dennoch für unbegründet: »Solche Verfahren sind weniger anfällig für Populismus als die repräsentative Demokratie.« Durch die langen Fristen werde die Diskussion eher vertieft.
Jenseits der Flüchtlingsthematik, die nur bei 0,5 Prozent aller Bürgerbegehren im Zentrum stand, zeigt die Studie starke regionale Unterschiede. Knapp 7000 Verfahren auf kommunaler Ebene wurden seit 1956 eingeleitet. Die meisten davon in den Stadtstaaten, Nordrhein-Westfalen und Bayern.
Die unterschiedliche Nutzung von direktdemokratischen Elementen führen die Autoren auf gesetzliche Regelungen zurück. Professor Hans J. Liezmann sagt: »In Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz oder dem Saarland haben viele Menschen aufgrund restriktiver Regelungen noch nie eine Abstimmung in ihrer Gemeinde erlebt.« Restriktionen können Themeneinschränkungen, hohe Quoren oder kurze Fristen sein. »Hohe Hürden wurden eingeführt um direkte Demokratie zu verhindern«, so Liezmann. Er sehe es mit großer Sorge, dass daran viele Bürgerbegehren scheitern. Der Professor glaubt: »Es kommt durch direkte Demokratie zu einer Repolitisierung gegenüber standardisierten Verfahren.« Unterschiede gibt es in diesem Zusammenhang auch zwischen urbanen und ländlichen Regionen. »In Städten sind Mobilisierung und direkter Austausch schwieriger, aufgrund der höheren Anonymität« , so Liezmann. Dort habe man außerdem eine Kluft zwischen Akademikern, die sich häufiger beteiligten, und Prekarisierten. Dennoch sieht er in Bürgerbegehren die Chance, Menschen einzubinden, die sich aus dem politischen Prozess eigentlich schon verabschiedet haben.
»In einigen Bundesländern werden die Regelungen reformiert«, erklärt Beck. Thüringen könne sich dabei an die Spitze stellen. Dort sollen mit einer für Herbst 2016 geplanten Reform weitreichende Möglichkeiten für Bürgerbegehren geschaffen werden. In der Praxis gehört Thüringen bisher nicht zu den Spitzenreitern. »Dass im Westen die Bereitschaft zur direkten Beteiligung tendenziell höher ist, mag auch daran liegen, dass die Menschen dort zufriedener mit dem politischen System sind«, vermutet der Professor. Im Osten beobachte er dagegen eher eine Fundamentalopposition gegen das politische System als Ganzes.
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