Die Welt, in der wir leben

  • Jacinta Nandi
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich sitze mit meinem Sohn auf meinem Bett. Er isst Chips und wir gucken Fußball auf dem kleinen Laptop, Deutschland gegen Polen.

Mein Sohn hat mich gewarnt - wenn ich noch mal einen Wortwitz über Schürrle mache (zum Beispiel: Schürrle some mistake! Oder: Schürrle not!) guckt er nie wieder mit mir Fußball. Auch verboten: seufzen beim Anblick von Draxler, Hummels, Boateng oder Müller und dabei sagen: »Das ist ein schöner Mann!«

Mein Sohn versucht mir beizubringen, wann etwas, das passiert, als gute Gelegenheit zu bewerten ist. »What a chance!« sagt er. »Hast du gesehen, Mama, was das für eine gute Gelegenheit gewesen ist?«

Ich gucke.

»Ja?«, sage ich.

»Beobachte aufmerksam die Wiederholung!«, sagt er. »Dann merkst du, dass das eine tolle Gelegenheit war.«

Ich beobachte aufmerksam. Sieht gut aus, denke ich, schade, dass der Ball nicht rein geht. Fußballgucken ist für mich wie eine »Kabale und Liebe«-Inszenierung in der Schaubühne; ab und zu kriege ich das Gefühl, dass ich was verstanden habe, ansonsten gucke ich gerne zu.

»Hast du bemerkt, wie toll diese Gelegenheit war?«, fragt mein Sohn.

»Ja?«, sage ich.

Vorhin habe ich Wales gegen England alleine geguckt, mein Sohn war noch in der Schule. Eigentlich bin ich kein Fußball-Fan, Fußball alleine zu gucken, macht mir keinen Spaß. Es sei denn, ich bin auf MDMA. Oder es ist eins dieser Spiele, wo das letzte Tor den plötzlichen Tod verursacht. Mein Sohn rief mich an, als er die Schule verlassen hatte. Ich sagte ihm, dass Wales führt, er war voll enttäuscht.

Ich guckte alleine weiter, hatte Langeweile, Heimweh, vermisste plötzlich meine Mama in England, wie sie immer zu sagen pflegte: »Warum holt der Schiedsrichter nicht seine kleinen roten Tickets raus? Sie spielen immer besser, nachdem er ein paar dieser Tickets verteilt, sie strengen sich mehr an.«

Wie sie sich immer freute, wenn England verlor: »Karma für Kolonialismus!« rief sie, total glücklich.

Ich rief sie nach dem Spiel an. Beim Gespräch sagte sie mir, dass die britische Abgeordnete gestorben ist, dann weinten wir. Meine Mama ist immer weinerlich. Ich kriege aber meine Tage, habe diese Woche über vieles geweint - Orlando, das Alligator-Baby, die England-Fans, die Bettlerkinder mit Münzen beworfen haben, den Brexit.

»In was für einer Welt leben wir eigentlich?«, sagte sie. »Damals, als ihr Kinder ward, mit Thatcher und so, war alles schlimm. Aber damals dachten wir, dass es besser wird.«

Mein Sohn kam nach Hause. Ich sagte ihm, dass England doch gewonnen hat, in der Nachspielzeit.

Jetzt gucken wir Deutschland-Polen. Gott, ist das Spiel langweilig, oder? Ich habe fast so viel Langeweile, wie ich habe, wenn ich alleine gucke. Draxler wird ausgetauscht gegen Gomez, und ich sage: »Er sieht aus wie Marty McFlys Papa, oder? Wie Zwillinge. Wahrscheinlich ist er voll der Sci-Fi-Fan so. Wahrscheinlich hat er immer noch Angst vor Biff ...«

»Mum«, sagt mein Sohn.

»Ja«, sage ich.

»Mach nie wieder einen Witz drüber, dass Gomez wie George McFly aussieht, sonst gucke ich nie wieder mit dir Fußball«, sagt er.

»Okay«, sage ich. Es gibt mittlerweile so viel, was ich nicht sagen darf.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Kopfball - die EM im Feuilleton