Zeichen vom Ende der Zeiten
Martin Leidenfrost über eine EU-Untergangsprognose und die Brexit-Stimmung in Nordirland
Neulich stieß ich mitten in einem Belfaster Wohnviertel auf eine gewaltige Mauer. Die Mauer führte mich in einen 400-jährigen Konflikt, in die »Ulster Plantation« von 1603 bis 1660, als die britische Krone den irischen Adel enteignete und protestantische Kolonisten aus Schottland und England holte. Diese belesenen, disziplinierten, wohlhabenden Protestanten sollten fortan in einem letztlich rassistischen Glauben an die eigene Auserwähltheit hinunterblicken auf arme, bäuerliche, versoffene, kinderreiche Katholiken. Am 23. Juni stimmt auch Nordirland über den Verbleib in der EU ab. Ich sprach mit den Seelsorgern im Schatten der Mauer.
Das katholische Clonard-Kloster lag an der Front. Als 1969 Hunderte Häuser von Protestanten abgefackelt wurden, fanden die unbehausten Katholiken hier Zuflucht. Mit mir sprachen der Rektor der 20 Redemptoristen - ein legerer Mönch im Polo-Shirt - und der jüngst aus Dublin zugezogene Mönch, der in seiner Sonntagspredigt das Verschwinden der Fronleichnamsprozessionen betrauert hatte. Die beiden Priester nannten mir weitere »Zeichen des Niedergangs«. Prozessionen und Aufmärsche, »das ist alles vorbei«. »Der Republikanismus hat eine On-Off-Beziehung mit dem Katholizismus«, »eine katholische Identität bedeutetet nicht Praktizieren«, »Iren singen im Pub und schweigen in der Kirche.« Immerhin brachte Clonard Jugendliche von beiden Seiten zu einem gemeinsamen Weltkriegsgedenken an die Somme und kriegte eine ökumenische Karfreitagsprozession in die protestantische Shankill rüber hin.
Beide sagten, dass sie für die EU stimmen. Das Wiedererrichten der gegenwärtig offenen Grenze zu Irland »würde den Friedensprozess um 30 Jahre zurückwerfen«. Führte Britannien, weil dies wegen der Insellage einfacher umzusetzen wäre, Kontrollen zu Nordirland ein, würfe das »die Unionisten in eine Grauzone«. Eine große Mehrheit der Katholiken werde gegen den Brexit stimmen, »aber aus wirtschaftlichen Gründen«.
Der Rektor führte mich ins Dachgeschoss des Klosters hinauf. Herrlicher Mauerblick und das Foto eines jungen Mönchs, der in den 20er Jahren aus diesem Fenster sah und von einem britischen Heckenschützen erschossen wurde. Der Rektor nannte es »eine Ironie, dass die Mauer in 20 Friedensjahren höher wurde, sicher um 40 Prozent«. Er wünschte sich die Mauer weg: »Es ist leicht, Steine und Benzinbomben rüberzuwerfen, wenn du denen nicht in die Augen sehen musst.« Er zeigte auf einen Rasen drüben, in dem eine Reihe probritischer Fahnen steckte: »Das dort ist eine vollkommen andere Welt, und das ist sehr traurig.«
Ich umwanderte die Mauer und wurde im bibelvollen Büro der »John Knox Memorial Free Presbyterian Church« empfangen. Der Vorgängerbau war 1986 von der IRA ausgeräuchert worden. Wie bei seiner schriftgelehrten Sonntagspredigt trug Reverend John Woods einen blauen Businessanzug. Ohne witzig zu sein, zerkugelte er sich häufig über sich selbst. Er führte gerade mal 35 aktive Schäfchen, laut einer Umfrage waren im Shankill-Viertel nur ein Prozent Kirchgeher. »Es wird viel vom Abbau der Mauer geredet, aber die Leute hier fühlen sich nun mal sicherer mit ihr.«
Der charismatische Hetzer Ian Paisley hatte nicht nur die Konfession des freundlichen Pastors gegründet, sondern auch die DUP, inzwischen die größte Partei Nordirlands, der auch die amtierende Ministerpräsidentin angehört. »Ich würde versuchen, Politik in meinen Predigten nicht zu erwähnen«, sagte Woods. Dass Paisley Papst Johannes Paul II. 1988 im Europa-Parlament als Antichrist beschimpft hatte, verteidigte er: »Für mich maßt sich der Papst eine Stellung an, die nur Jesus oder dem Heiligen Geist zusteht.« Die katholische Lehre vom Fegefeuer etwa sei falsch. Er sagte in einem sehr verbindlichen Ton: »Ich glaube nicht, dass die katholische Kirche eine christliche Kirche ist«. Bei ökumenischen Aktionen wie der Karfreitagsprozession machte er »generell nicht mit«, denn »nicht alle Denominationen führen zur Erlösung«.
Wie die DUP und wie wohl auch die meisten seiner Gläubigen war Woods für den Brexit. »Die Schrift sagt viel voraus.« Das Römische Reich und die EU würden wohl ähnlich enden: »Ich sehe in der Schrift Zeichen vom Ende der Zeiten, Jesus kommt zurück. Ja, man soll aufstehen für seinen Glauben, ohne aber etwas zu verteidigen, das zum Scheitern bestimmt ist.« Reverend Woods meinte die Europäische Union.
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