Kein Frieden mit Berlin

Russischer Wissenschaftler sieht formelle vertragliche Regelung in weite Ferne gerückt

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine Wiederherstellung der vollen staatlichen Souveränität Deutschlands nach dessen Kapitulation 1945 sehen russische Experten in weite Ferne gerückt - sie bedürfte eines Friedensvertrages.

Durch den Streit um die Kurilen-Inseln im Pazifik weiß in Russland schon jedes Schulkind, dass es bis heute keinen Friedensvertrag mit Japan gibt. Was normale Bürger meist nicht wissen: Auch mit Deutschland, dem Hauptgegner im Großen Vaterländischen Krieg, befindet sich Moskau formaljuristisch weiter im Kriegszustand. Experten nehmen sich des hochsensiblen Themas meist nur zu runden Jahrestagen an. Der 22. Juni ist ein solcher.

Vor 75 Jahren überfiel Hitler die Sowjetunion. Das Abenteuer endete für Deutschland mit dem Verlust der staatlichen Souveränität. Und die sei bis heute begrenzt. Vollumfänglich wiederhergestellt werden könne sie nur durch Abschluss eines Friedensvertrages, sagt Alexei Fenenko. Der 38-Jährige ist Dozent für internationale Politik an der Moskauer Lomonossow-Universität, lehrt seit 2014 auch an der Diplomaten-Akademie MGIMO und gilt als ausgewiesener Kenner der Materie.

Selbst ein Angehöriger der Generation der Enkel erzählt er detailreich wie ein Zeitzeuge von der Pariser Konferenz 1947. Dort schlossen die Alliierten mit Hitlers einstigen Satelliten formal Frieden. Das sei der erste und für lange Zeit letzte Versuch gewesen, sich auch auf einen Friedensvertrag mit Deutschland zu einigen. Weitere hatten sich in der Tat durch Zweistaatlichkeit und Mitgliedschaft von BRD und DDR in unterschiedlichen Militärbündnissen, die das jeweils andere als Gegner sahen, erledigt.

Mit dem Vertrag zur Wiederherstellung der deutschen Einheit 1990 erloschen zwar die Rechte der Besatzungsmächte. Beschränkungen deutscher Souveränität, so Fenenko, blieben jedoch bestehen: Verzicht auf Herstellung, Besitz und Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen oder das Verbot von Volksentscheiden zu politisch-militärischen Fragen wie Abzug ausländischer Truppen. Kanzler Helmut Kohl habe das Präsident Michail Gorbatschow am 12. September 1990 garantiert.

Die Einschränkungen sollten bis zu einem Friedensvertrag gelten. Russland sei dennoch freiwillig in Vorleistungen gegangen, habe sein Truppenkontingent 1994 abgezogen und Deutschland damit international politisch aufgewertet. Vor allem die Iran-Verhandlungen hätten gezeigt, dass die fünf Atommächte mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Berlin beim globalen Krisenmanagement als souveränen, gleichberechtigten Partner wahrnehmen.

Moskau, so Fenenko weiter, hatte sich besondere Beziehungen zu Deutschland erhofft und die Vermittlung Berlins, als sich das Verhältnis von Russland und NATO Mitte der Nullerjahre zu verschlechtern begann. Die Bundeskanzlerin indes suche den Dialog nicht mit Moskau, sondern mit Washington. Sie habe sich von Barack Obama sogar für die Russland-Sanktionen der EU »missbrauchen lassen« und dem US-Präsidenten im April die Beteiligung der Bundeswehr an der Verstärkung der gegen Russland gerichteten NATO-Präsenz in Osteuropa zugesagt.

Ein Friedensvertrag, fürchtet Fenenko, rücke in sehr weite Ferne und damit auch eine uneingeschränkte formaljuristische deutsche Souveränität. Zwar würden die USA und Großbritannien an Berlin im Rahmen der NATO mehr militärische Kompetenzen abtreten und Osteuropa faktisch als deutsches Einflussgebiet anerkennen. Beide würden aber darauf achten, dass die Deutschen ihre neuen Befugnisse ausschließlich zur Abschreckung Russlands nutzen.

Bestätigt sah Fenenko seine Befürchtungen durch das neue Weißbuch der Bundeswehr. Moskau ist für Berlin kein Partner mehr, titelte die »Nesawissimaja Gaseta«. Sieben Jahrzehnte nach Kriegsende zähle Deutschland Russland wieder zu seinen Gegnern. Deutschland-Kenner wie Wladislaw Below mahnen indes zu Gelassenheit. Russische Zeitungen hätten von der »Welt«, die den Text des Weißbuchs »willkürlich interpretiert«, abgeschrieben und die russlandkritische Position des deutschen Blattes übernommen. Das Weißbuch porträtiere Russland als »Rivalen« - was auch die USA für Europa seien. Auch reflektiere das Weißbuch nicht die Stimmungslage der deutschen Gesellschaft, sondern lediglich die des antirussischen Flügels innerhalb der CDU. Und im militärischen Bereich seien Russland und Deutschland ohnehin nie Freunde gewesen.

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