Briten servieren der EU die Krise

51,9 Prozent für den Ausstieg – 
Europa nach Brexit-Mehrheit 
auf der Suche nach sich selbst – 
Jubel bei den Rechtsaußen

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Es war eine lange Nacht und an dem englischen Frühstück, das ihr folgte, werden Großbritannien und Europa noch eine Weile zu kauen haben: Eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Briten hat sich für den Austritt des Landes aus der EU entschieden.

Zwar hatte es am späten Donnerstagabend zunächst nach einem knappen Vorsprung des Lagers der Befürworter einer EU-Mitgliedschaft ausgesehen, doch die Prognosen lagen deutlich daneben. Spätestens um 4 Uhr am Freitag war klar: Es gibt Brexit am Morgen.

Mit Großbritannien büßt die EU eine der globalen Hauptstädte des Finanzkapitalismus, die zweitgrößte Ökonomie des Kontinents und das nach der Bevölkerung drittgrößte EU-Land ein. In den europäischen Hauptstädten schwankten die Reaktionen denn auch zwischen blankem Entsetzen und demonstrativer Gelassenheit. In dem einen drückte sich die politische Unsicherheit nach dem Brexit-Votum aus; das andere sollte vor allem »die Märkte« beruhigen.

Großbritanniens Premier David Cameron kündigte am Freitag seinen Rücktritt für Oktober an. Dass der konservative Politiker zugleich erklärte, erst sein Nachfolger solle formell den EU-Austritt erklären, stieß in Brüssel und Berlin nicht auf Beifall. Die EU erwarte, dass London die Entscheidung »so schnell wie möglich« wirksam mache, drängten die EU-Spitzen. Auch die Bundesregierung äußerte sich so. Nach Artikel 50 des EU-Vertrages beginnt erst nach der offiziellen Austrittserklärung eine zweijährige Frist, in der beide Seiten die Entflechtung ihrer Beziehungen aushandeln.

Den Wortführer der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, der Chancen auf die Nachfolge von Cameron hat, ließ das Drängen aber kalt: »Es gibt jetzt keinen Grund zur Eile«, sagte er in London. Labour-Chef Jeremy Corbyn widersprach dem. Er hatte für einen Verbleib in der EU geworben, musste nun aber mit ansehen, dass vor allem englische Arbeiter und Angestellte für den Brexit stimmten.

Auf europäischer Ebene begann am Freitagmorgen schon die Krisendiplomatie. Kanzlerin Angela Merkel kündigte ein Sondertreffen mit EU-Spitzen und Frankreichs Präsident François Hollande an. Am Dienstag findet eine Sondersitzung des EU-Parlaments statt, danach startet ein zweitägiger EU-Gipfel. »Die Europäische Union ist stark genug, um die richtigen Antworten auf den heutigen Tag zu geben«, sagte Merkel - doch was die richtige Antwort ist, blieb am Freitag so umstritten wie zuvor.

Griechenlands linker Regierungschef Alexis Tsipras forderte »einen Neustart für das Vereinigte Europa« als sozial gerechte und demokratische Union. Die europäische linke Bewegung DiEM25 wies die Verantwortung den EU-Eliten zu. In Deutschland erklärten die Spitzen von Linkspartei und Linksfraktion, der Brexit bedeute einen Bruch, »der die historische Chance eröffnet, den Menschen in Europa ihre Stimme zurückzugeben«. SPD-Chef Sigmar Gabriel, der das Ergebnis englisch fluchend mit »Damn!« aufgenommen hatte, nutzte die Gelegenheit, sich von Merkel und deren Finanzminister Wolfgang Schäuble mit linken Forderungen nach einer sozialen EU abzusetzen.

Im rechten Lager wurde die Brexit-Mehrheit dagegen bejubelt. »Sieg«, twitterte die Vorsitzende der französischen rechtsradikalen Front National, Marine Le Pen. Der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump nannte das Votum »fantastisch«. Frohlocken auch bei der deutschen Rechtsaußen-Partei: AfD-Vize Beatrix von Storch kündigte Brexit-Feiern an. Es wird damit gerechnet, dass in Ländern wie Dänemark und den Niederlanden die Anti-EU-Bestrebungen von rechts neuen Rückenwind erhalten.

An den Börsen weltweit sorgte die knappe Entscheidung der Briten für schwere Turbulenzen. Kurse und Indizies stürzten zum Teil im zweistelligen Bereich ab, das britische Pfund brach auf den niedrigsten Stand seit 1985 ein. Kapitallobbyisten in Deutschland sprachen von einem »Schlag ins Kontor«, der den Export deutlich treffen werde. Verwiesen wurde aber auch auf die Folgen für Großbritannien. Das Land steht nach dem Brexit-Votum noch vor einer weiteren Herausforderung: Schotten und Nordiren haben mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert - und drängen nun umso mehr auf Unabhängigkeit vom Königreich. tos

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