Telegene Panikattacken
Freitags Wochentipp: Spezial von »Aktenzeichen XY ... ungelöst« über vermisste Kinder
Nachdem die erste EM-Woche besonders durch Bilder geprägt war, bleibt die zweite eher im Ohr haften - und das nicht nur, weil Bildschirmgeräusche jeder Temperatur am Freitag auf der FilmTonArt endlich mal ausreichend gewürdigt wurden. Kurz bevor zeitgleich der Jubel des Brexit-Lagers samt Wehklagen ringsum bis München drang, gab es für Hörseher allerlei Erstaunliches zu hören. Dem isländischen Reporter des Spiels gegen Österreich etwa entlockte der Sieg seiner Landsleute Laute wie auf einer effizienten Swingerparty. Bela Réthys süffisanter Sportpatriotismus dagegen machte nicht mal vorm deutschen Schiedsrichter Halt, dem das ZDF-Fossil selbst krasse Fehlentscheidungen nationalstolz nachsah. Währenddessen klang der sexistische Furor gegen Claudia Neumann nicht so, als hätte sie als erste Frau ein deutsches Länderspiel kommentiert, sondern Pädophilie als Schulfach gefordert.
Frauen im Fußball sind halt noch immer so irritierend wie in der Politik. Dort nämlich, durften wir der »Tagesschau« entnehmen, ist Virginia Raggi demnächst Roms »erste weibliche Bürgermeisterin«. Verrückt, nach all den männlichen Bürgermeisterinnen zuvor. Es bleibt halt dabei: Die vermeintlichen Herren der Schöpfung und ein paar debil-servile Damen an ihrer kernigen Seite, wollen deren weibliche Geschlechtsgenossinnen eben nicht am Mikro sehen, sondern hinterm Herd. Damit der treu sorgende Ehemann nach Feierabend was Warmes auf dem Tisch hat und saubere Kinder zur Seite.
Wenn die denn nicht gerade entführt, geschändet, vernachlässigt werden. Wer »Aktenzeichen XY ... ungelöst« sieht, könnte Mittwoch nämlich abermals den falschen Eindruck gewinnen, die größte Gefahr droht Heranwachsenden nicht durch rasende Autofahrer mit mutiertem Y-Chromosom oder durch falsche Ernährung, für die ja immer noch mehrheitlich Trägerinnen des intakten XX-Satzes zuständig sind, sondern durch heimtückische, vorsätzliche, physische Gewalt. In einem »Spezial« präsentiert Moderator Rudi Cerne »Meine bewegendsten Fälle«, wie er es nennt: Fünf vermisste Kinder, die mal 20 Jahre, mal ein paar Monate verschwunden sind, mal mit, mal ohne Verdacht auf Sexualdelikt, aber immer anrührend bis zum Herzerweichen.
Das klingt an sich löblich, spiegelt aber einen Trend wider, den das langlebigste ZDF-Magazin bereits seit 1967 befeuert: die Zahl schwerer Verbrechen wie Mord und Totschlag, aber auch der Kriminalität von und an Jugendlichen befindet sich seit zweieinhalb Jahrzehnten fast durchweg im Sinkflug, telegene Panikattacken wie »XY« jedoch sorgen unverdrossen dafür, dass die Bevölkerung mehrheitlich vom Gegenteil überzeugt ist.
Verschwundene Kinder auch mit Hilfe des Fernsehens zu finden, mag menschlich geboten sein; die permanente Suggestion, das Leben Minderjähriger wie Erwachsener sei von außen gefährdeter als von innen, sorgt für ein Klima der Angst. Das beschert Rudi Cerne beständig hohe Aufmerksamkeit. Kinder ziehen bekanntlich immer. Geigen drüber, Quote hoch.
ZDF, 29.6., 20.15 Uhr
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.