Im Camp David des Fußballs

Im Kino: »90 Minuten - Bei Abpfiff Frieden« von Eyal Halfon

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 5 Min.

Über das Tor von Wembley (1966) wird zwar noch nicht ganz so lange gestritten wie über die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina. Der unendliche Tordisput zeigt aber, dass ausgerechnet Fußball durch sein Potenzial an Fehlentscheidungen und vielfältig interpretierbaren Spielsituationen denkbar ungeeignet ist, eine klare und anschließend für den Unterlegenen akzeptable Konfliktlösung herbeizuführen - wenn es um mehr als eine EM geht. Genau darum hat der israelische Autor und Regisseur Eyal Halfon in seiner Pseudo-Dokumentation »90 Minuten - Bei Abpfiff Frieden« das meistens ungerechte Spiel als Lösungsmodell für den israelisch-palästinensischen Konflikt ausgesucht. Um die bizarre reale Situation im Nahen Osten aus ungewöhnlichem Blickwinkel zu betrachten, kreiert er eine noch viel verrücktere Konstellation: Die Mannschaften Palästinas und Israels fechten ein einziges Spiel aus. Danach soll der Konflikt ein für alle Mal beigelegt sein.

Schwierige Fragen müssen geklärt werden: War die Tochter des belgischen Schiedsrichters nicht einst im Kibbuz, macht ihn das parteiisch? Müssen die Spieler in Israel und Palästina leben oder reicht schon die Abstammung? Und immer wieder schweifen die Verhandlungsführer ab: Töten israelische Flugzeuge nun palästinensische Kinder, oder schicken Palästinenser Kinder in den Krieg gegen israelische Zivilisten?

Um die ganz großen und sehr kleinlichen Fragen auszufechten, schicken beide Nationen die Chefs ihrer Fußballverbände in die Verhandlungen. Der Direktor der israelischen Nationalmannschaft (Moshe Ivgy) und sein palästinensischer Gegenpart (Norman Issa) sind zwei patriotische Schlitzohre, die aus einem beachtlichen Repertoire an schmutzigen Tricks schöpfen. Ivgy und Issa zählen nicht ohne Grund zu den beliebtesten Schauspielern des Nahen Ostens, und die Szenen, in denen die gesetzten Herren scharfe Dialoge wie Giftpfeile abschießen, sind ein ziemlich ungetrübter Genuss. Der Film ist multilingual und multiethnisch: Das Sprachgewirr symbolisiert zusätzlich die babylonische Verwirrung des Konflikts, der Film kann eigentlich nur im Original mit Untertiteln gezeigt werden.

Wo wird gespielt? In Portugal, wo der dortige Platzwart schon von einem »Camp David des Fußballs« träumt. Warum eigentlich nicht in Wembley? »England fällt aus historischen Gründen aus, die sich vor allem auf die Zeit vor der Gründung Israels beziehen. Gegen Deutschland spricht natürlich auch Einiges«, erklärt der internationale Fußballfunktionär. Nichts spricht aber zunächst gegen den deutschen Trainer Müller (Detlev Buck), der die Israelis fit machen soll, aber permanent unter der deutschen Geschichte zusammenzubrechen droht.

Das Spiel selber gründet auf einer geradezu unmenschlichen Prämisse: Wer verliert, muss sich nicht etwa unterordnen, sondern muss sich gleich eine ganz neue Heimat suchen. Der Sieger bekommt alles, von Jaffa bis Jerusalem, von Galiläa bis Eilat.

In »90 Minuten« wird keine Gelegenheit ausgelassen, möglichst »unkorrekt« dort hinzugehen, »wo es weh tut«. Das ist zum Teil wirklich lustig und aufklärerisch. Zum Teil ist es aber auch einfach albern oder wirkt wie angestrengt angerührter, möglichst »schwarzer« Humor. Darf man über das Thema überhaupt eine Komödie drehen? Ja, man muss. Denn »90 Minuten« erschüttert »Gewissheiten« zu einem Konflikt, der durch jahrzehntelange Nachrichtenroutine »normal«, gottgegeben und unabänderlich erscheint. Eyal Halfons Kunstgriff der Fake-Dokumentation kreiert einen surrealen Raum, der Empathie für beide Seiten ermöglicht, was bemühte ARD-Reportagen schon lange nicht mehr schaffen. Mel Brooks’ 90. Geburtstag gab gerade wieder Anlass, um über die Grenzen des Humors zu reflektieren, gerade wenn es um den Holocaust geht. Und um den geht es natürlich auch, etwa als Gründungsmythos oder Motivations-Motiv. Die Palästinenser müssen es da eine Nummer kleiner angehen: Sie spazieren mit den aufzuheizenden Spielern zu Stätten legendärer Straßenschlachten mit der israelischen Armee.

Zur Bindung an die »jüdische Seele« muss der vom historischen Auftrag erdrückte deutsche Trainer Müller die heiligen Stätten des jüdischen Volkes abhaken und an der Klagemauer oder in Masada hebräische Vokabeln pauken: »Am Israel Chai« - »Das Volk Israel lebt«. Doch die bisherigen Teambildungs- und Motivations-Techniken schlagen nicht an, und schließlich verkündet der israelische Verbandschef mit grimmigem Gesicht: »Ok. Vergessen Sie die Klagemauer. Jetzt machen wir ernst!« In der nächsten Szene wird das Nationalteam in einer Holocaust-Gedenkstätte auf ihren epochalen Auftrag eingeschworen. Nur Müller zerbricht daran: Das Schicksal Israels in den Händen eines Deutschen? Da zieht der doch lieber den Schwanz ein - und das Training übernimmt die Armee ...

Zentrale Konfliktfigur ist ein in Israel geborener (und aufwendig ausgebildeter) Araber, ein linksverteidigender Fußballstar. Die Zuspitzung auf den jungen Mann zwischen den Welten, der droht, an den hysterischen Erwartungen beider Seiten zu zerreißen, ist logisch: kann man doch an seiner Person zum einen die große Macht des Zufalls demonstrieren, der auswürfelt, auf welcher der mindestens zwei Seiten des Konflikts man geboren wird - oder ob man, wie der arabische Israeli, in einer keineswegs komfortablen »Mitte« aufwächst. Zum anderen ist dies eine Figur, die der Regisseur nach Lust und Laune als kompletten Idioten, als verantwortungslosen und materialistischen Schwachkopf demontieren kann, ohne dadurch parteiisch zu wirken. Das ist auch eine schöne Botschaft des Films: Die Zugehörigkeit zu einer (oder auch keiner) Seite schützt keineswegs vor persönlicher Idiotie.

Auch das war sicher ein Problem der Filmemacher: die großen Verletzungen beider Seiten so gut es geht zu respektieren. Das ist einigermaßen gelungen, der Film ist ziemlich fair. Selbst wenn man nie alle Befindlichkeiten beachten kann, so werden die palästinensischen Raketenangriffe ebenso thematisiert wie die demütigende Checkpoint-Schikane der Israelis und allgemein die Militarisierung und Verrohung beider Seiten - eine Ausgewogenheit, die radikalen Vertretern auf beiden Seiten möglicherweise zu weit geht.

Doch die für den eigenen Anspruch eigentlich zu brave Satire fragt auch, warum keine bessere Lösung als das unmenschliche Fußballduell gefunden werden konnte. Und wie es sein kann, dass dieser Wahnsinn von den Medien und der »Weltgemeinschaft« hingenommen wird. So wird es am Abend vor dem Spiel noch einmal emotional: Die organisatorischen und ideologischen Hürden sind aus dem Weg geräumt, es kann angestoßen werden - und plötzlich macht sich Katerstimmung breit: »Hätte man nicht doch einen Kompromiss finden müssen?«, fragt der Palästinenser, und fasst damit die eigentliche Botschaft des Films zusammen.

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