Die Blockade bleibt

Zehn Jahre nach Beginn der Abschottung durch Israel und zwei Jahre nach dem Krieg ist der Gaza-Streifen am Boden

  • Oliver Eberhardt, Gaza-Stadt
  • Lesedauer: 7 Min.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat einen neuen Dialog zwischen Israel und den Palästinensern gefordert. Ein Anlass ist die seit zehn Jahren andauernde Blockade des Gaza-Streifens.

Am Nachmittag spielen Jugendliche am Strand von Gaza Ball, an genau jener Stelle, an der vor zwei Jahren Kinder Verstecken spielten. Sie wurden dabei von einer Granate getötet, die von einer israelischen Fregatte aus abgefeuert worden war. Im Juli 2014 eskalierte der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erneut und zu einem 50-tägigen Krieg. Die Spannung ist geblieben.

Heute flanieren Menschen am Meer, einige baden. Die Stimmung ist ausgelassen, feierlich: Der Abend naht, und damit auch das Fastenbrechen während des Ramadan. Händler ziehen die Rollläden ihrer Geschäfte hoch, bereiten die Auslagen vor. Doch viel ist dort oft nicht zu zeigen: ein paar Früchte, ein bisschen Milch im Kühlschrank, Fleisch in der Kühltheke. »Ich versuche, immer nur genau so viel auf Vorrat zu haben, wie es unbedingt notwendig ist«, sagt Abed, ein Metzger. Denn immer wieder gibt es Stromausfälle, oft auch über mehrere Stunden. »Fleisch und Milch sind knapp und teuer: Ich kann es nicht riskieren, dass mir die Ware schlecht wird.« Und dann: Im Gaza-Streifen können sich überhaupt nur wenige eine einigermaßen anständige Ernährung leisten.

Zwei Jahre sind seit dem Ende des bis dato letzten Krieges vergangen, des dritten Krieges innerhalb von nur zehn Jahren, wenn man die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und der von der Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde nicht mit einberechnet. Nach jedem dieser Kriege gelobte die internationale Gemeinschaft Milliardenhilfen, Rekordsummen sogar nach dem vergangenen Krieg. In Pressekonferenzen wurden Aufbauprojekte und Hilfsprogramme vorgestellt. Die Realität steht dazu in einem krassen Gegensatz: Nur ein Teil des versprochenen Geldes wurde ausgezahlt, nur wenige Projekte wurden umgesetzt.

Wenn man sich auf eines der wenigen hohen Gebäude in Gaza stellt und den Blick schweifen lässt, dann sieht man immer noch eingestürzte Gebäude, riesige Freiflächen und, ganz klein, unten am Boden, Zelte, aus Brettern und Planen zusammengewerkelte Hütten, in denen Menschen seit dem Krieg der Sommerhitze und den Winterstürmen trotzen müssen.

Weit in der Ferne sind die Dächer der israelischen Ortschaften im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen zu sehen. Die Spuren des Krieges sind hier längst beseitigt. Und trotzdem noch da: Viele Unternehmen haben sich vom monatelangen Stillstand im Sommer 2014 nicht erholt; neue Investoren sind schwer zu finden, obwohl die Regierung mit erheblichen Steuererleichterungen lockt: Zu groß sei das Risiko eines weiteren Krieges. Mehrere tausend Einwohner hat die Region verloren.

Das Grenzgebiet hat sich auch politisch gewandelt: Noch vor zehn Jahren waren die meisten der Ortschaften hier nahezu unangreifbare Bastionen der Arbeitspartei. Mittlerweile prägen rechte Parteien wie die von Avigdor Lieberman geführte Jisrael Beitenu das Meinungsbild. Lieberman, der während des Krieges Außenminister war, hatte immer wieder kritisiert, die israelische Strategie sei zu lasch; der Gaza-Streifen müsse besetzt, die Hamas »ausgerottet« werden. Nun ist er seit einigen Wochen Verteidigungsminister, und in der Region ist immer wieder die Hoffnung herauszuhören, dass Lieberman seine Forderung auch durchsetzt.

»Das Misstrauen sitzt einfach sehr, sehr tief«, sagt Amir Peretz, der aus der Region stammt, einst den Gewerkschaftsdachverband Histadruth führte, während des Libanon-Krieges in den 80er Jahren Verteidigungsminister war, und heute für das Links-Mitte-Bündnis Zionistische Union im Parlament sitzt.

Einige Kilometer weiter südlich, am Übergang Kerem Schalom warten Dutzende Lastwagen darauf, entladen zu werden. Vom Sonnenblumenöl bis zur Nuss-Nougat-Creme ist im Grunde alles dabei. Was fehlt, sind Baustahl und bestimmte Gebrauchsgüter, die zum Bau von Bomben und Raketen verwendet werden können. Die Einfuhr von Zement ist über ein komplexes Abkommen mit den Vereinten Nationen streng reglementiert. Kurz gesagt: Wer welchen braucht, muss sich darum bewerben und wird dann auf Verbindungen zur Hamas oder einer anderen gewaltbereiten Organisation überprüft.

Der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude kommt einfach nicht in Gang. Stattdessen beobachten Mitarbeiter der Vereinten Nationen immer wieder, wie Zement und andere Güter von Mitgliedern der Essedin al Kassam-Brigaden und des Islamischen Dschihads abtransportiert werden. »Die machen das ganz offen«, sagt ein UNO-Mitarbeiter in Gaza: »Wir können nicht mehr tun, als bei der palästinensischen Regierung zu protestieren. Das Problem dabei ist, dass deren Mitarbeiter vor Ort noch weniger zu sagen haben als wir.«

Die politische Situation in Gaza ist chaotisch: 2007 hatte die Hamas im Gaza-Streifen die Macht übernommen und eine eigene Regierung gebildet. Im Juni 2014 einigte man sich dann mit der Autonomiebehörde in Ramallah auf eine Einheitsregierung. Ob diese Vereinbarung weiterhin gilt, können nicht einmal Vertreter von Hamas und Fatah sagen. In der Realität wurden die Entscheidungen vor Ort stets von einem Schattenkabinett getroffen, das sich aus dem politischen Flügel der örtlichen Hamas rekrutiert, wobei dessen Einfluss ebenfalls begrenzt ist.

Das Bild der Hamas wird im täglichen Leben durch die Kassam-Brigaden geprägt, die offiziell den militärischen Flügel der Hamas bilden. Zusammen mit dem eigentlich rivalisierenden Islamischen Dschihad bezeichnen sie sich gerne als »Widerstand«; Ziel sei es, Gaza »vom Joch der Unterdrücker« zu befreien, donnert einer der Brigadisten, ein höchstens 20-jähriger Mann, der zusammen mit seiner schwer bewaffneten Gruppe an einer Kreuzung Ausweise kontrolliert: Kollaborateure finden, dass sei ihre Aufgabe, sagt er; in einer Ecke bewachen zwei Brigadisten vier Palästinenser.

Keine dieser Brigaden hat eine staatliche Aufgabe, sie sind auch nach dem Recht der Hamas-Regierung weder Polizei noch Militär. Offiziell steht man hinter der Regierung. In sozialen Netzwerken im Internet häufen sich die Klagen über die Willkür der Kampfgruppen, im täglichen Leben mag sich kaum jemand kritisch äußern. »Wir leben in einer Situation, in der jeder jederzeit in Gefahr geraten kann«, sagt ein Anwalt, der seinen Job als »extrem frustrierend« bezeichnet: »Wir haben zwar Gerichte und Prozesse, doch in Strafverfahren sind die Urteile oft schon vorher fertig; in Zivilprozessen hängt die Entscheidung und ob sie umgesetzt wird davon ab, wer der Gegner ist.«

Gleichzeitig haben nicht nur die Kassam-Brigaden, sondern auch der Islamische Dschihad und der zuletzt zunehmend aktivere Ableger des Islamischen Staats, der von der Sinai-Halbinsel in den Gaza-Streifen übergegriffen hat, großen Zulauf: Die Jugend radikalisiert sich, je länger die Zeit der Blockade, der Perspektivlosigkeit anhält. »Die Religion bietet Halt, diese Gruppen ein Gefühl der Macht«, sagt Ahmed al-Mansur, ein vor Ort praktizierender Psychotherapeut: »Man denkt, dass die Regierung im Krieg vor Israel eingeknickt ist, und will das jetzt zu Ende führen.«

Und so herrscht zwei Jahre nach dem Krieg tiefe Ratlosigkeit: Die Geberländer machen die unklare politische Lage im Gaza-Streifen verantwortlich; ein Großteil der Gelder sei einfach nicht abgerufen worden. Die Regierungen von Frankreich und Großbritannien beklagen, man habe Gaza-Geld an die Autonomiebehörde überwiesen, das dann nicht für Gaza verwendet wurde.

In dieser Situation sei eine Aufhebung der Blockade undenkbar, heißt es aus dem Büro von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, wo man sich gleichzeitig des Radikalisierungsproblems bewusst ist: Es sei notwendig, schnell gegenzusteuern, und dies bedeute, möglichst schnell die Lebensbedingungen im Gaza-Streifen zu verbessern. Dabei stößt man allerdings auch auf praktische Probleme: Nach dem derzeitigen System müssen Güter über den Hafen von Aschdod und dann über die Straße nach Gaza geliefert werden. Doch die Kapazität der Zufahrtswege ist erschöpft.

In Israel wird immer wieder diskutiert, Güter über die See direkt nach Gaza zu liefern. Doch dazu müsste entweder ein künstlicher Hafen vor der Küste installiert werden, auf dem dann internationale Beobachter die Kontrollen durchführen, oder diese Kontrollen an den Ausgangshäfen durch geführt werden. Bislang haben sich keine Länder gefunden, die diese Verantwortung übernehmen wollen.

Am Strand von Gaza ist mittlerweile die Sonne untergegangen; die Menschen haben ihre Gebete verrichtet; es wird gegessen, was man hat. Normalerweise würde man jetzt gleich Fußball schauen. Aber der Strom ist ausgefallen. Im Hintergrund liegt die Stadt im Dunkeln.

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