Der Realpolitik eine Chance
Ex-General Harald Kujat über das Verhältnis zwischen NATO und Russland, Frieden in Europa und Verständigung
Wir gehen heute gewöhnlich davon aus, dass der Kalte Krieg mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung endete.
Es war wohl eher der 27. Mai 1997, der Tag, an dem die Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und Russland in Kraft trat. Auf dieser Grundlage wurde einen Tag später der NATO-Russland-Rat als Forum für Konsultationen, Konsensbildung, Zusammenarbeit und gemeinsame Entscheidungsfindung ins Leben gerufen. Er sollte einen fortlaufenden politischen Dialog über Sicherheitsfragen ermöglichen, um sich abzeichnende Probleme rechtzeitig zu erkennen, optimale gemeinsame Lösungswege festzulegen und gemeinsame Aktionen durchzuführen.
Harald Kujat, Jahrgang 1942, war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer Rede des Generals a. D. während der Potsdamer Begegnungen des Deutsch-Russischen Forums in Berlin Ende Mai dieses Jahres, die zuerst in der aktuellen Ausgabe der außenpolitischen Zeitschrift »Welttrends« erschienen ist. Deren Schwerpunkt beschäftigt sich mit der Politik der sogenannten Visegrád-Gruppe gegenüber der Europäischen Union: Auf welchen Kurs begeben sich Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn? Unter anderem finden sich Analysen über die Asylpolitik der Visegrád-Gruppe und den Aufstieg des Nationalpopulismus in Ostmitteleuropa in der Ausgabe. Informationen zu »Welttrends« und Bezugsmöglichkeiten finden Sie unter welttrends.de
Die Grundakte dokumentiert, wie aus politischen Widersachern und militärischen Gegnern Partner wurden. Welche Ziele mag wohl eine Politik verfolgen, die ein derart wichtiges Instrument der internationalen Krisenbewältigung dann suspendiert, wenn es am dringendsten gebraucht wird?
Wir haben die Chance zu einer »Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok« vertan und sehen hilflos und ratlos zu, wie der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Die Ukraine gibt ihm seinen geografischen Namen und sichtbaren Ausdruck. Die Arbeitsteilung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa - finanzielle und militärische Unterstützung einerseits, diplomatische Vermittlung und Sanktionen andererseits, garantieren trotz Minsk II nicht, dass aus dem Krieg in der Ukraine kein Krieg um die Ukraine wird.
Zugleich wird uns immer klarer, dass wir die Probleme des internationalen Terrorismus und Fundamentalismus, der weltweit ungleichen Verteilung der Güter und der Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen in weiten Teilen der Welt und mit der Folge von bisher unvorstellbaren Flüchtlingswellen nur gemeinsam lösen können.
Die Gefahren, durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und weitreichende Trägermittel bedrohen Europa wie Russland in gleicher Weise. Sie erfordern eine enge, die strategischen Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigende Zusammenarbeit, damit Fehleinschätzungen und gefährliche Gegenreaktionen vermieden werden. Die Stabilität zwischen den beiden nuklearstrategischen Supermächten, den Vereinigten Staaten und Russland, ist entscheidend für unser aller Schicksal. Moderne Waffentechnologien können das Gleichgewicht gefährden und bedürfen daher höchster Aufmerksamkeit und rüstungskontrollpolitischer Begrenzung. Das auf der beiderseitigen Zweitschlagsfähigkeit beruhende Gleichgewicht gilt es unter allen Umständen zu wahren, auch im Hinblick auf defensive Raketenabwehrsysteme. Verzichten sollten wir auch auf Gegendrohungen mit dem Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen. Wird die nukleare Büchse der Pandora einmal geöffnet, lässt sie sich nicht wieder schließen.
Europa hat sich daran gewöhnt, dass es keine Sicherheit ohne die Vereinigten Staaten gibt, aber ebenso gibt es keine Sicherheit ohne Russland - und schon gar nicht gegen Russland. Die Krisen unserer Zeit sind deshalb nur lösbar, wenn sich beide Großmächte gemeinsam und aus gleichem Recht um eine Lösung bemühen.
Doch Europa muss sich zwischen den Vereinigten Staaten und Russland behaupten. Wir dürfen unser Schicksal nicht allein in die Hände der beiden Großmächte legen, sondern müssen in unserem eigenen Interesse aktiv dazu beitragen, den Antagonismus zwischen Ost und West, die Spirale von Drohung und Gegendrohung, von Fehleinschätzung und Überreaktion zu überwinden. Wir wären deshalb gut beraten:
die gegenseitigen strategischen Interessen anzuerkennen und zu respektieren. Denn jede Großmacht hat ihr Kuba. Wer das versteht, weiß, dass es ohne ein gemeinsames Bemühen der Vereinigten Staaten mit Russland - sozusagen auf Augenhöhe - keine dauerhafte Lösung des Ukrainekonfliktes geben wird. Europa sollte sich in seinen Möglichkeiten nicht überschätzen.
Krisen und Konflikte zu entideologisieren und sie auf ihren faktischen Kern und die jeweilige politisch-strategische Zielsetzung zu beschränken. Denn nur so ist eine vorurteilsfreie Krisen- und Konfliktbewältigung möglich. Man muss auch verstehen, dass eine rein wertorientierte Politik im Gegensatz zu einer Interessenpolitik in einer multipolaren Welt schnell an ihre Grenzen stößt.
in Verhandlungen den gemeinsamen Interessen den Vorrang vor dem Trennenden zu geben. Denn in einer engen Verflechtung des gemeinsamen Vorgehens hätte derjenige Nachteile, der die Zusammenarbeit unterbricht.
auf militärische Provokationen zu verzichten. Denn niemand kann ausschließen, dass Überreaktionen und menschliches Versagen zu einem Konflikt führen, der nicht mehr kontrollierbar ist.
wieder Vertrauen aufzubauen, durch Berechenbarkeit, durch Dialog und Verhandlungen, durch praktische Zusammenarbeit.
zu akzeptieren, dass die Sanktionspolitik gegen Russland gescheitert ist, weil sie ihre politischen Ziele nicht erreicht hat und nicht erreichen wird. Sie schadet beiden Seiten gleichermaßen und schafft wirtschaftliche Verwerfungen, die auf lange Zeit nicht korrigiert werden können.
die Fundamente, auf denen die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland gegründet ist, wieder freizulegen und zu den Zielen, Prinzipien und Verpflichtungen aus der NATO-Russland-Grundakte zurückzukehren.
Schließlich wären wir gut beraten, positive Zeichen der anderen Seite anzuerkennen und darauf aufzubauen. Ich meine beispielsweise die Tatsache, dass die NATO bei allem Bemühen, den Sicherheitsinteressen ihrer osteuropäischen Verbündeten gerecht zu werden, sich an die Zusage hält, keine substanziellen Truppenteile dauerhaft in Osteuropa zu stationieren.
Ich meine aber auch das politisch riskante militärische Eingreifen Russlands in Syrien, das die Tür zu einem Dialog der Bürgerkriegsparteien über die Zukunft des Landes aufgestoßen hat. Ich meine auch die Freilassung der ukrainischen Pilotin und das Bemühen Russlands, den politischen Prozess in der Ostukraine voranzutreiben.
In einer Zeit, in der das Verstehen mit einem Makel belegt ist, hat es die Verständigungspolitik schwer. Aber es ist doch hoffentlich möglich, in den Krisen unserer Zeit der Realpolitik eine Chance zu geben, und, um ein Wort Carl-Friedrich von Weizsäckers zu übernehmen, als Anwälte gemeinsam angewandter Vernunft zum Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit aller Staaten des euro-atlantischen Raumes zurückkehren.
Realpolitik wäre die vollständige Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates mit regelmäßigen Tagungen und dem Ziel, die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland zu erneuern: auf der Ebene der militärischen Stabschefs, um vertrauensbildende, deeskalierende und stabilisierende Maßnahmen zu vereinbaren; auf der Ebene der Außenminister, um zu einem Ausgleich unterschiedlicher politischer Interessen zu kommen; auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, mit dem Ziel, einer Lösung des Syrien- wie des Ukrainekonfliktes näher zu kommen.
Es wäre aber wohl zu viel angewandter Vernunft, zu erwarten, dass der nächste NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau durch einen NATO-Russland-Rat ergänzt wird, Aber vielleicht wird unseren Politiker ja bewusst, dass sich 2017 der Harmel-Bericht zum 50. Mal jährt, mit dem die NATO eine lange Phase der Entspannungspolitik eingeleitet hat.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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