Island im Halbfinale
Island ist eine Insel, die der Fantasie zu den bizarrsten Höhenflügen aufhilft. Dass davor auch ältere Herren nicht gefeit sind, denen die Lebenserfahrung die orgiastischen Flausen eigentlich ausgetrieben haben sollte, stellte Henryk M. Broder unter Beweis, als er von Island als einer »Landschaft voller pornografischer Formationen« fantasierte: »Hügel, Gletscherspalten, Geysire«. Das war vor fünf Jahren während des Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse.
Nur Ikarus - wenn er seinen Aufstieg zur Sonne denn überlebt hätte, statt im Überschwang der künstlichen Flügel geradewegs in den gefräßigen Feuerball zu rauschen - wüsste besser als die Isländer selbst, wie schmal der Grat zwischen Aufstieg und Absturz ist. Zwischen totalen Bankrott und rasanten Wiederaufbau, zwischen Beginn und Ende der Amtszeit eines Premierministers, zwischen Triumph und Katastrophe passt dort oben oft nicht mal ein Krümchen grauer Vulkanasche aus den Kratern des Eyjafjallajökull.
Auf den von vielen euphorisierten Fernsehfußballfreunden herbeihalluzinierten Einzug ins Halbfinale müssen die Isländer nun viele dürre Jahre lang warten, weil französische Realisten wie der grimmige Dimitri Payet die Publikumslieblinge von der fantastischen Insel binnen weniger Minuten humorlos auf den Boden der Tatsachen zurückgeschossen haben. Ein isländischer Turniererfolg ist seit Sonntagabend weiter entfernt, als selbst ein Aron Gunnarsson werfen kann. Nüchtern betrachtet, müssten die Europameisterschaften künftig in Turnhallen ausgetragen werden, wie sie die Isländer während des langen Winters zum Trainieren nutzen, und die Ahndung des Handspiels müsste aus dem Reglement gestrichen werden, damit die Handballernation sich berechtigte Hoffnung auf den großen Fußballerfolg machen könnte. Wenigstens aber müsste die erste Halbzeit eines Spiels fortan als bloße Aufwärmphase eingestuft und lediglich die zweite dürfte zur Ermittlung des Spielausgangs herangezogen werden. Wäre es schon so weit, wäre Island jetzt Halbfinalist.
In ganz Europa gestaunt wurde in den vergangenen Tagen speziell über die isländischen Fans. Zwar nahmen sich deren Gesänge deutlich monotoner aus als beispielsweise diejenigen der Iren, aber dafür waren sie laut (»Huh!«). Schon die schiere Anzahl der schlachtenbummelnden Insulaner ließ manchen Traumtänzer mit den Wimpern klimpern: Jeder zehnte der rund dreihundertdreiunddreißigtausend Einwohner soll sich zum Zeitpunkt des letzten Spiels in Frankreich aufgehalten haben. Dabei gibt es auch für die Reisefreude eine ziemlich profane Erklärung: So pries der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson als größten Vorteil seiner vielen Lesereisen einmal die Tatsache, dass der Whiskey in den Duty Free Shops der Flughäfen sehr viel billiger sei als zu Hause.
Nicht Island, sondern Frankreich steht nun im Halbfinale. Der Gegner wird zur Stunde im Elfmeterschießen zwischen Italien und Deutschland ermittelt. Nach bislang 1436 Versuchen beider Mannschaften steht es im Nouveau Stade de Bordeaux nach wie vor unentschieden.
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