Schiri, der hat schon Gelb!

Die Feuilleton-EM-Kolumne

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor jeder Welt- und Europameisterschaft nehme ich mir fest vor, alles ganz ruhig angehen zu lassen. Mit meinem Verein, dem 1. FC Kaiserslautern, habe ich in aller Regel eine Saison erlebt, für die mir als Fan ein saftiges Schmerzensgeld zustehen müsste. Nach den flachen Höhen und abgründigen Tiefen des FCK will ich bei dem folgenden Nationenturnier entspannt die Füße hochlegen und Herz und Hirn auf Stand-by schalten. Während der überwiegend öden Spiele, das weiß man ja vorab, wäre das Abspielen einer Kaminfeuer-DVD ohnehin packender.

Meine zuverlässig mit der Lektüre der Sonderhefte von »kicker« und »11 Freunde« verbundenen Anflüge von Leidenschaft für die DFB-Elf ließ ich mir auch vor dieser EM von meinem linken Umfeld vertreiben: Kulturindustrie! Nazis!! Kapitalisten!!!

Am Ende habe ich mir doch beinahe jedes Spiel angesehen. Diesmal war die Langeweile so horrend, dass ich manchmal freiwillig die Wohnung putzte, im exaltierten Kommentatorenlärm eine Erzählung von Adalbert Stifter las (Bergkristall! Wirkungsvoller als jede Narkose!) oder Verwandte anrief, deren Existenz ich aus dem Langzeitgedächtnis kramte, damit ich mich beim Anblick des Ballgeschiebes nicht fühlen musste wie kurz nach der Lobotomie.

Ganz anders war es bei den Deutschlandspielen. Da imitierte ich wie am »Match Day« meines FCK den Rhythmus der Spieler: am Vortag früh ins Bett, morgens nur ein leichtes Frühstück, ab mittags »högschde Disziplin«, »voll fokussiert«, »im Tunnel«. Während des Spiels verwandelte ich mich vom scheuen Reh zum Stadionpöbler Marke Hausmeister, der im Berufsleben brüllend Bierflaschen nach spielenden Kindern wirft.

Meine eher aus gesellschaftspolitischen Gründen sich für die EM interessierenden linken Berliner Freunde, die in meinem Heim Unterschlupf suchten vor dem Fanmeilen- und Public-Viewing-Wahnsinn, blickten mich fassungslos an, wenn ich bei jeder Kleinigkeit aufsprang und wie sonst nur in der Westkurve auf dem Lauterer Betzenberg den Unparteiischen anschrie (»Schiri, der hat schon Gelb!«), beim ersten Fehler eine Auswechslung forderte (»Schmeißt den Anti-Fußballer Höwedes raus!«) und jede vergebene Torchance beweinte, als wäre mein Hamster gestorben.

Ich kultiviere es tatsächlich, das im Eventgehabe verschütt gegangene Image des Fußballfans als seinen Alltagsfrust gegen überbezahlte »Schnäger« (so nennt man in der Pfalz verwöhnte Jungs) auskotzenden und maximal dreizähnigen Dorfdeppen.

Da ich die Annahme einer Willensfreiheit sowieso für Unsinn halte, ergebe ich mich meiner Sozialisation. Seinen Fußballverein sucht sich ein wirklicher Fan sowieso nicht aus. Wenn auch das angewiderte Abnabeln vom Elternhaus ausbleibt, dann verschwindet irgendwie auch nicht die Passion für Fußballmillionäre, zu denen man hält, weil man mit ihnen zufällig die Staatsangehörigkeit teilt.

Mich haben Rentner geprägt, die im Fritz-Walter-Stadion versuchten, mit ihren Spazierstöcken die Spieler des Gegners in die Rippen zu stechen. Und ein Großvater, der mit meinen Eltern für mich jahrelang hart ausgehandelt hatte, dass ich zwischen der EM 92 und der EM 2000 alle Spiele mit deutscher Beteiligung sehen durfte. So wenig ich mich schon jetzt, da die EM 2016 zu Ende geht, an mehr als drei Begegnungen des Turniers erinnern kann - was von ihm definitiv bleiben wird, ist mein widersinniger und unheilbarer Fußballnationalismus.

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