Der Westen macht sich zur Geisel der eigenen Politik

Der Moskauer Wissenschaftler Boris Kagarlitzki über die vermeintliche Kriegsgefahr zwischen der NATO und Russland und die fundamentale Ähnlichkeit der Machtstrukturen

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Wenn man den Alltag in Moskau und anderen russischen Städten erlebt, hat man das Gefühl, die Russen haben ganz andere Probleme als Kriegsgefahr. Die Menschen fahren auf ihre Datschen, kaufen ein, besuchen Konzerte. Warum sprechen die russischen Intellektuellen nicht öffentlich über die Kriegsgefahr?
Es ist wahr. Dass es einen großen Krieg mit dem Westen geben wird, glauben nur wenige. Und man muss verstehen, dass die Drohungen des Westens und das Thema der NATO-Erweiterung von der offiziellen Propaganda sehr aktiv genutzt werden.

Wodurch könnte ein Krieg zwischen dem Westen und Russland ausgelöst werden?
Zurzeit ist ein großer Krieg nicht möglich. Solange Wladimir Putin und seine Umgebung an der Macht sind, kann es einen Krieg zwischen dem Westen und Russland nur auf der Informations- und der virtuellen Ebene geben. Anders wird es, wenn es eine Regierung gibt, die sich mehr an den Bedürfnissen und Stimmungen der Bürger orientiert. Im Westen versteht man nicht, dass von allen potenziell möglichen Regierungschefs Putin der prowestlichste ist. Das Verhältnis der Bevölkerung zum Westen ist viel schlechter als das der Regierung. In der Ukraine- und der Krim-Frage ist die Bevölkerung radikaler gestimmt. Viele Erklärungen der Politiker, die der Westen als aggressiv auffasst, sind Versuche, das Vertrauen und die Achtung der Bevölkerung zu erlangen.
Das heißt nicht, dass die Menschen in Russland mit dem Westen kämpfen wollen. Aber im Bewusstsein hat sich die Vorstellung verfestigt, dass die Regierungen des Westens unsere Feinde sind. Das ist kein Ergebnis von Propaganda, sondern Folge dessen, was der Westen mit Russland in den 1990er Jahren gemacht hat, als er Boris Jelzin und seine Reformen unterstützte.

Was ist das Ziel der neuen schnellen Eingreiftruppe der NATO in Osteuropa?
Die westlichen symbolischen Truppenteile stationiert man im Baltikum nicht, um die Russen aufzuhalten, sondern um eine Situation ähnlich der in Süd-Ossetien im Jahre 2008 zu schaffen. Der Krieg zwischen Ossetiern und Georgiern betraf automatisch auch das in Süd-Ossetien stationierte russische Truppenkontingent und zwang Russland einzugreifen. Die Militärs der NATO gehen davon aus, dass Moskau die Analogie versteht und sich nicht im Baltikum einmischt. Aber was tun, wenn die Regierungen im Baltikum selbst einen Konflikt provozieren? In Berlin und in Washington versteht man noch nicht, dass der Westen sich zur Geisel der baltischen Politiker macht, die weder über Realismus und gesunden Menschenverstand verfügen noch sich zu demokratischen Werten bekennen.

Was sind die größten Verfälschungen im Propagandakrieg zwischen dem Westen und Russland?
Das Wichtigste, wovon man weder im Westen noch in Russland spricht, ist die fundamentale Ähnlichkeit der Machtstrukturen und der Eliten in unserem Land und im Westen. Das Problem mit Putin besteht nicht darin, dass er dem Westen entgegentritt, sondern darin, dass er ein organischer Teil der gegenwärtigen neoliberalen Ordnung ist. Genau deswegen verschärft sich der Konflikt - ein System ist in der Krise, die innere Konkurrenz wächst. Dabei sind die westlichen Raubtiere aggressiver und ausdauernder. Letztendlich ist das, was in Griechenland und der Ukraine passierte, Teil eines Prozesses. Und dieser geht vom neoliberalen System der Europäischen Union (EU) aus. Um in der Krise zu überleben, braucht man zusätzliche Ressourcen. Ob aus Süd- oder aus Osteuropa ist egal. Geändert werden kann die Lage nur durch einen sozialen Umbau und den Kampf gegen die neoliberalen Institutionen im Westen wie im Osten des Kontinents. Soviel wir auch mit anti-militaristischen Plakaten demonstrieren, wir werden keinen Erfolg haben. Allein die pazifistische Propaganda hat noch keinen Krieg verhindert.

Inwieweit hat der Propagandakrieg die Beziehungen zwischen Russen, Ukrainern und Deutschen vergiftet?
Die Beziehungen wurden nicht durch die Propaganda verdorben, sondern durch die wirtschaftliche Krise, aus der ein aggressives Verhalten der Eliten entstand.

Warum ruft der Westen Kiew nicht dazu auf, mit den Separatisten zu verhandeln?
Der Westen ist eine Geisel seiner eigenen Politik in der Ukraine - genauso wie im Baltikum. Niemand kontrolliert die Situation. In der Ukraine ist ein korrumpiertes, antidemokratisches Regime an der Macht, dessen Führer sich unangreifbar fühlen, weil sie wissen: Die EU ist gezwungen, sie in jeder Situation zu unterstützen, was sie auch machen.

Mit welchen militärischen und politischen Gegenmaßnahmen rechnen Sie von Seiten Russlands?
Die Macht in Russland modernisiert zurzeit die Armee. Gleichzeitig versucht sie Lehren aus den militärischen Konflikten der letzten Jahre in Syrien und Neu-Russland (gemeint ist die Krisenregion in der Ostukraine, U.H.) zu ziehen. Wie erfolgreich das läuft, ist bisher nicht klar. Aber man sollte sich daran erinnern: Wer von der »russischen Gefahr« spricht, ignoriert, dass die russische Armee sogar nach einer erfolgreichen Modernisierung noch erheblich schwächer ist als die Truppen der NATO. Sie ist prinzipiell nicht in der Lage, einen großen Angriffskrieg zu führen. Die Kräfte der russischen Armee reichen für eine effektive Verteidigung oder für Siege in Grenzkonflikten, für mehr nicht. Sie ist weder eine Gefahr für Deutschland, das Baltikum noch für Finnland. Was die Ukraine betrifft: Zurzeit spricht Kiew von einem bevorstehenden Krieg mit Russland. In Moskau zieht man es vor, nicht darüber nachzudenken oder wenigstens nicht darüber zu reden.

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