»Säuberung«: Tausende in der Türkei verhaftet
6000 Festnahmen / Richter, Staatsanwälte und Verfassungshüter nach dem Putschversuch im Visier der Regierung / Ein Fünftel aller Richter abgesetzt
Update 19.35 Uhr: Putschisten verweigern Festnahme auf Luftwaffenstützpunkt
Auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Konya ist es am Sonntagabend nach Angaben eines Behördenvertreters zu Zusammenstößen zwischen mutmaßlichen Putschisten und Sicherheitskräften gekommen. Die Soldaten widersetzten sich ihrer Festnahme durch die Polizei, sagte der Behördenvertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte. Teile des Militärs hatten am Freitagabend einen Putsch gestartet, der nach wenigen Stunden niedergeschlagen wurde.
Update 16.35 Uhr: Berater von Erdogan und Gül festgenommen
Ein Berater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan soll einem Bericht zufolge festgenommen worden sein. Der Oberst Ali Yazici befinde sich in Gewahrsam, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Wo Yazici festgenommen wurde und was genau ihm vorgeworfen wird, blieb zunächst unklar. Der türkische Nachrichtensender NTV berichtete, auch ein Berater des ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül sei festgenommen worden.
Update 16.25 Uhr: Claudia Roth stellt Flüchtlingsdeal mit Türkei in Frage – Altmaier hält dran fest
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) äußerte nach dem gescheiterten Putschversuch Zweifel am Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei: »In dieser Zeit des Chaos und der Unsicherheit müssen die bestehenden Abkommen mit der Türkei in Bezug auf die Flüchtlingspolitik in Frage gestellt werden«, sagte Roth der »Welt«. Die EU müsse ihre Hausaufgaben schon selbst erledigen und sich »endlich zu einer humanitären, fairen, solidarischen und vernünftigen eigenen Flüchtlingspolitik zusammenraufen«, so Roth.
Nach Ansicht von Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) ist das Flüchtlingsabkommen nicht gefährdet. »Es gibt bislang keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Abkommen in Gefahr sein könnte«, sagte Altmaier der »Saarbrücker Zeitung«. Beide Seiten müssten ihre Verpflichtungen weiterhin erfüllen, und »das werden sie auch tun«, ergänzte der Minister. In dem Flüchtlingsabkommen mit der EU sicherte die Türkei zu, alle neu auf den griechischen Mittelmeerinseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, für jeden so abgeschobenen Syrer einen anderen syrischen Flüchtling auf legalem Weg aufzunehmen.
Updater 15.25 Uhr: Gülen: »Eine militärische Intervention ist niemals positiv«
Der islamische Prediger Fethullah Gülen hat erneut den Vorwurf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurückgewiesen, hinter dem gescheiterten Putschversuch zu stehen. »Meine Botschaft an das türkische Volk ist, eine militärische Intervention niemals positiv zu sehen«, sagte der 75-Jährige am Samstag (Ortszeit) in Saylorsburg (US-Staat Pennsylvania) unter anderem der »New York Times«. Auf diese Weise könne Demokratie nicht erreicht werden. Gülen lebt seit Ende der 1990er Jahre in den USA. Eine Beteiligung seiner Anhänger an dem Putschversuch könne er nicht ausschließen, denn er sei sich inzwischen unsicher, wer seine Anhänger in der Türkei seien, zitierte die »New York Times« aus dem Interview.
Update 15.20 Uhr: EU-Politiker warnen vor dem Bruch demokratischer Grundrechte
EU-Kommissar Oettinger betonte, sollte Präsident Erdogan den Putsch zur Einschränkung von Grundrechten nutzen, würde er sich von den Werten der Europäischen Union und der Nato entfernen. »Er würde damit seine Position zwar innenpolitisch stärken, doch er würde sich außenpolitisch isolieren«, sagte Oettinger der »Welt am Sonntag«. EU-Parlamentspräsident Schulz sagte dem Berliner »Tagesspiegel am Sonntag«: »So erschütternd der Putschversuch ist, den ich mit aller Schärfe verurteile - die türkische Regierung darf dies nicht zum Anlass nehmen, ihrerseits demokratische Grundregeln zu brechen.«
Update 15.15 Uhr: Kommandeur der Luftwaffenbasis Incirlik festgenommen
Der Kommandeur der auch von der Bundeswehr genutzten türkischen Luftwaffenbasis Incirlik soll nach Angaben aus Regierungskreisen festgenommen worden sein. General Bekir Ercan Van werde mutmaßliche Unterstützung des gescheiterten Putschversuchs vorgeworfen, hieß es am Sonntag. Auf dem Stützpunkt sind neben der US-Armee auch 240 Soldaten der Bundeswehr stationiert. Deutsches Militär beteiligt sich von dort aus im Kampf gegen den IS.
Update 15.00 Uhr: Erdogan nennt Gülen-Anhänger »Viren« und »Metastasen«
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat nach Tausenden Festnahmen erneut ein gnadenloses Vorgehen gegen Anhänger seines Erzfeindes Fethullah Gülen angekündigt. »Liebe Brüder, ist das genug?«, sagte er vor jubelnden Anhängern im Istanbuler Bezirk Fatih mit Blick auf die Verhaftungen. »In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.«
Update 13.30 Uhr: Angriffe gegen IS von Luftwaffenstützpunkt Incirlik ausgesetzt
Die Angriffe gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) vom abgeriegelten Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus setzte die US-Armee aus. Aus Washington hieß es dazu, der für die Angriffe genutzte Luftraum sei geschlossen. Das US-Konsulat in Adana erklärte am Samstag: »Die örtlichen Behörden haben den Zugang zur Basis und auch das Verlassen des Luftwaffenstützpunktes untersagt.« Gründe für die Abriegelung des Stützpunkts durch die türkischen Behörden wurden nicht genannt. Aus dem Bundesverteidigungsministerium hieß es, die US-Armee habe in Absprache mit dem türkischen Militär die Sicherheitsmaßnahmen vorsorglich um eine Stufe angehoben. Diese Stufe gelte sonst bei einem Terrorangriff oder einer drohenden terroristischen Attacke.
Update 12.25 Uhr: 6000 Menschen festgenommen
Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sind rund 6000 Menschen festgenommen worden. Dies teilte am Sonntag Justizminister Bekir Bozdag mit. »Die Säuberungsaktionen werden derzeit fortgesetzt«, sagte Bozdag nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu. »Wir haben bereits 6000 Menschen festgenommen. Und die Zahl wird noch über 6000 steigen.«
»Säuberung«: Tausende in der Türkei verhaftet
Berlin. Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs in der Türkei hat die Regierung des umstrittenen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan eine groß angelegte Verhaftungswelle gegen Richter und Staatsanwälte losgetreten. Gegen 140 Richter und Staatsanwälte sind lokalen Medien zufolge Festnahmebefehle ergangen. Bei Einsätzen in den Städten Konya und Gaziantep wurden schon zahlreiche Juristen festgenommen. Mehrere türkische Medien berichteten in der Nacht zum Sonntag, dass die Richter und Staatsanwälte aus Istanbul der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und Beteiligung am Putschversuch beschuldigt würden.
Den Berichten zufolge sollen Wohnungen und Büros der Beschuldigten durchsucht werden. Bereits am Samstag waren zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts in Ankara festgenommen worden, wie zuvor schon zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte. Insgesamt wurden über 2.700 Richter bereits abgesetzt - fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15.000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul, nicht nur angebliche Unterstützer des Putsches seien von der Repressionswelle betroffen, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker Erdogans würden festgenommen.
Die Erdogan-treuen Sicherheitskräfte setzten auch die Einsätze gegen mutmaßliche Unterstützer der Putschisten im Militär am Sonntag fort. Unter anderem seien der Brigadegeneral Özhan Özbakir sowie 51 weitere Soldaten bei einer Razzia auf einem Armeestützpunkt in Denizli in Gewahrsam genommen, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu. Auf dem auch von der Bundeswehr genutzten Luftwaffenstützpunkt Incirlik wurde laut einem Bericht der Zeitung »Hürriyet« der General Bekir Ercan Van zusammen mit mehr als einem Dutzend weiterer Soldaten festgenommen. Sie würden nun von den Ermittlern befragt.
Die türkische Regierung hatte bereits am Samstag mitgeteilt, dass mehr als 2.800 Armeeangehörige unter Putschverdacht festgenommen worden seien. Nach Angaben des Senders NTV sitzen inzwischen 34 Generäle in Untersuchungshaft, unter ihnen Erdal Öztürk, Kommandeur der Dritten Armee, sowie der Kommandeur der Zweiten Armee, Adem Huduti.
Der Staatsapparat begann nach dem Scheitern des Coups umgehend mit der von dem autoritären Präsidenten Erdogan angekündigten »Säuberung«. Er bezeichnete den Freitagnacht gestarteten Putschversuch dafür als einen »Segen Gottes«. Über die Einführung der Todesstrafe könne im Parlament gesprochen werden, sagte Erdogan vor Anhängern. »Es ist auch nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen.«
Die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft in Ankara geleitet. Den meisten Beschuldigten wird vorgeworfen, Anhänger des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen zu sein. Die türkische Regierung macht den Erzfeind von Präsident Erdogan für den versuchten Militärputsch verantwortlich. Der Kleriker weist diesen Vorwurf entschieden zurück. Auch viele Beobachter halten die Vorwürfe gegen die Gülen-Bewegung für vorgeschoben.
Gülen, nach einem schweren Zerwürfnis 2013 einer von Erdogans Erzfeinden, lebt in den USA und bestritt die Vorwürfe. Er verurteilte den Putschversuch in einer Mitteilung scharf. In einem seltenen Zeitungsinterview sagte der Kleriker der »New York Times« vom Samstag, möglicherweise stehe Erdogan selbst dahinter. Allerdings könne er keine »Anschuldigungen ohne Beweise« vorbringen. »Es könnte eine Lüge sein, es könnte ein falscher Vorwurf sein (...).« Einige Führer inszenierten »falsche Selbstmordanschläge«, um mit stärkerer Hand regieren zu können, »solche Leute könnten sich solche Szenarien einfallen lassen«, sagte Gülen weiter. »Es könnte etwas von der Opposition oder von Nationalisten sein. Ich bin seit 30 Jahren aus der Türkei weg und habe das nicht verfolgt.«
Erdogan verlangte von den USA die Auslieferung oder Festnahme von Gülen. Wenn die USA und die Türkei tatsächlich strategische Partner seien, müsse Obama handeln. Die USA würden Außenminister John Kerry zufolge einen türkischen Antrag auf Auslieferung Gülens prüfen. Kerry wies in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu Behauptungen über eine Verwicklung der USA in den gescheiterten Putschversuch energisch zurück. Diese seien »völlig falsch und schädlich für unsere bilateralen Beziehungen«, hieß es in einer Erklärung des US-Außenministeriums.
Bei dem versuchten Umsturz wurden nach offiziellen Angaben in der Nacht mindestens 265 Menschen - darunter 161 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und 104 Putschisten - getötet und mehr als 1.000 verletzt.
In mehreren Städten in der Türkei hielten Zehntausende Menschen in der Nacht zum Sonntag »Wachen für die Demokratie« ab. Türkische Medien berichten von Siegesfeiern nach dem gescheiterten Putschversuch in Städten vom Westen bis zum Südosten des Landes. Bilder zeigen jubelnde und fahnenschwenkende Menschenmassen etwa in der Hauptstadt Ankara.
Bei einer Sondersitzung des Parlaments dankte Ministerpräsident Binali Yildirim der Opposition und türkischen Bürgern für ihre Unterstützung. Er erklärte den 15. Juli - den Tag des gescheiterten Putsches - zum künftigen »Demokratie-Festtag«.
Sowohl Erdogans islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Die Putschisten wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenrechte und die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen. Acht türkische Soldaten setzten sich mit einem Militärhubschrauber nach Griechenland ab und beantragten politisches Asyl. Sie sollten möglicherweise ausgeliefert werden. Der türkische Hubschrauber, mit dem sie sich abgesetzt hatten, ist bereits in die Türkei zurückgeflogen worden. Am Montag soll das Asylverfahren der acht türkischen Militärs beginnen. Es handelt sich um drei Majore, drei Hauptmänner und zwei Unteroffiziere, alle Heeresflieger, wie griechische Medien berichteten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat am späten Samstagabend mit dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras telefoniert. Wie die staatliche griechische Nachrichtenagentur ANA-MPA berichtete, bedankte sich Erdogan für die griechische Haltung, den Putsch gegen ihn zu verurteilen.
Irans Präsident Hassan Ruhani hat unterdessen den Putschversuch in der Türkei verurteilt. »Kanonen und Panzer können wahre demokratisch gewählte Regierungen nicht mehr stürzen. (...) Die Zeit ist vorbei«, sagte Ruhani am Sonntag in einer Rede in der westiranischen Stadt Kermanschah. Leider glaubten immer noch einige in der Region, dass ein Militärputsch etwas bewirken könne, doch nur über Wahlurnen könnten Proteste weltweit reflektiert und Probleme ausgeräumt werden. Das gelte für die Türkei, aber auch den Iran und die Krise in Syrien, so Ruhani. Der Iran hat eine gemeinsame Grenze mit der Türkei. Kurz nach Beginn des Putschversuches waren der Nachrichtenagentur Fars zufolge in der Nacht zum Samstag zwei Grenzübergänge zur Türkei vorübergehend geschlossen worden. Agenturen/nd
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