Ausgeputscht

Die türkische Armee wurde von Erdogan politisch marginalisiert, ist jedoch als Partner der NATO unersetzlich

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Putschen darf in der Türkei ab sofort nur noch einer: Recep Tayyip Erdogan, der allmächtige türkische Staatspräsident. Das ist neu. Wenn die Armeeführung bislang zur Erkenntnis gekommen war, dass eine gewählte Regierung das Land in den Abgrund führt oder ein Bürgerkrieg droht, ergriffen Generäle das Zepter. Sie beriefen sich dabei stets auf das laizistische Erbe des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.

Atatürk, er starb 1938, hatte dem Militär eine starke Autonomie zuerkannt, vor allem, um Islamisten von der Macht fernzuhalten und den türkischen Staat an den Westen zu binden. Als die Soldaten 1960 die Macht übernahmen, erfuhren die Bürger erst einen halben Tag später davon. So leise und unblutig war der Coup. 1971 trat das Militär an, um angeblich den linksextremistischen Terror zur stoppen. 1980 addierte man zur angeblich linken Gefahr eine von rechts. Über eine halbe Million Menschen wurden damals eingekerkert, viele hingerichtet. 1997 reichte eine einzige Drohung und die Regierung Erbakan floh aus ihrem Amt. Sie wusste: Hinter der Drohung stand die NATO.

Von der Position, Herr im Hause Türkei und Vollstrecker des NATO-Willens zu sein sowie auf die Duldung breiter Volksschichten zu bauen, ist die Armee 2016 weit entfernt. Zudem: Diesmal putschte nicht die Führung, sondern subalterne Offiziere vor allem aus der Luftwaffe und Panzerleute fühlten die Notwendigkeit - und sahen ihre Chance. In den türkischen Medien wird Akin Öztürk als Rädelsführer genannt. Der General befehligte von 2013 bis 2015 die Luftstreitkräfte und soll vor einem Jahr zum Rücktritt gezwungen worden sein. Auch ein Oberst Muharrem Köse wird beschuldigt, an der Spitze gestanden zu haben.

Die türkischen Streitkräfte bestehen aus über 500 000 Mann. Das Heer ist modern ausgestattet und gut trainiert. Es verfügt unter anderem über 14 Panzer- und 14 mechanisierte Brigaden. Die sind hochmobil und vor allem mit deutschen Leopard-Panzern ausgerüstet. Top-Gerät fliegen auch die Luftstreitkräfte. Schon seit einiger Zeit stößt vielen Soldaten die islamistisch geprägte Einflussnahme Erdogans auf den Syrien-Konflikt übel auf. Sie befürchten, dass die Türkei in den Konflikt, dessen Lösung nicht in Sicht ist, hineingezogen werden kann. Im Gegensatz zum Staatspräsidenten versuchen die Truppenlenker, die Beziehungen zu den westlichen Verbündeten stabil zu halten.

Der Staatspräsident ist der Oberbefehlshaber, doch die Beziehungen zwischen Erdogan und »seinen« Soldaten waren noch nie vertrauensvoll. In den 13 Jahren, in denen er Premier war, versuchte Erdogan, die Truppe politisch zu marginalisieren. Das hat er erreicht. Es wurden kemalistische Generäle in die Wüste geschickt, Beförderungen müssen seit einiger Zeit politisch genehmigt werden. So kommen Leute nach oben, die Erdogans AKP-Partei nahestehen. Zuletzt gab es in der Türkei Gerüchte über eine neue Säuberungswelle in der Armee, die für Anfang August geplant war. Nun wurde sie wegen des Putsches vorgezogen. Annähernd 3000 Soldaten sind festgenommen worden, darunter befinden sich 34 Generäle. Besonders prominent sind Befehlshaber der zweiten und der dritten Armee.

Auch beim Geld läuft seit geraumer Zeit eine Strafaktion. Erdogan kürzte das Budget des Militärs, obwohl er im Innern des Landes einen blutigen Feldzug gegen die Kurden befohlen hat. Erdogan kann auf die Unterstützung der Gläubigen zählen. Kaum waren am Samstagabend die ersten Panzer in Istanbul zu sehen, riefen Imame von Minaretten dazu auf, dem Präsidenten zu helfen.

In den letzten zehn Jahren entstand eine parallele militärisch organisierte Struktur aus Polizei, Geheimdiensten, Justiz und Sondereinheiten. Deren Führer waren - im Gegensatz zu Politikern in aller Welt - nicht überrascht vom Putschversuch und auch die Führungsstrukturen der AKP waren imstande, in Windeseile die Parteigänger Erdogans gegen die aufmüpfigen Truppenteile in Stellung zu bringen. Sie machten sofort Erdogans Hauptfeind, den seit 1999 in den USA lebenden türkischen Prediger Gülen verantwortlich. Der »Mann aus Pennsylvania« wolle die Macht erobern. Besonders glaubwürdig klingt das nicht, gehörte Gülen - wie Erdogan - doch zu den schärfsten Kritikern der Armee.

Seit 1952 ist die Türkei Mitglied der NATO und - wie sich jüngst auf dem Gipfel in Warschau wieder einmal zeigte - deren wichtigste Stütze an der südlichen Flanke. US-Außenminister John Kerry hat noch am Samstag seinen türkischen Amtskollegen Mevlut Cavosoglu vor einer Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen den NATO-Partnern gewarnt. Die USA seien bereit, die türkischen Behörden bei der Untersuchung des Aufruhrs zu unterstützen. Dafür müssten allerdings alle Andeutungen über eine angebliche Beteiligung Washingtons an dem Putschversuch aufhören.

Im Rahmen der nuklearen Teilhabe können türkische Flugzeuge mit Atomwaffen bestückt werden. Die lagern unter US-Aufsicht auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik, wo derzeit rund 300 deutsche Soldaten samt Tornado-Jets stationiert sind. Die Maschinen fliegen für die US-geführte Anti-IS-Koalition Aufklärungseinsätze. Auch deutsche Betankungsflugzeuge sind von dort aus im Einsatz. Beim Warschauer NATO-Treffen hat die Allianz sich entschlossen, mehr Unterstützung beim Einsatz gegen den Islamischen Staat anzubieten. Zunächst denkt man vor allem an AWACS-Maschinen. Die fliegenden Gefechtsstände sollen auf Wunsch der Türkei in die Region verlegt werden und die Angriffsoperationen gegen den Islamischen Staat koordinieren helfen. Zugleich will Ankara die Maschinen als Rückversicherung gegenüber Russland.

Noch am Sonntag war die Lage in Incirlik, wo auch zahlreiche US-Jagdbomber stationiert sind, unübersichtlich. Der Chef der Airbase wurde verhaftet, es herrscht die zweithöchste Sicherheitsstufe, die Stromversorgung funktioniert nicht, Flugbetrieb findet nicht statt. Was dem Islamischen Staat in Syrien und Irak nur recht sein kann.

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