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Richterfauxpas lässt Prozess platzen

370 Verhandlungstage waren umsonst

  • Dieter Hanisch, Kiel
  • Lesedauer: 3 Min.

Gäbe es eine juristische Hitliste in Sachen Pleiten, Pech und Pannen, der jetzt in Kiel geplatzte Prozess um vermeintlich betrügerische SMS-Flirtchats hätte beste Aussichten auf die Spitzenposition. Wegen eines Fehlverhaltens durch einen Berufsrichter und einen Schöffen wurde einem Befangenheitsantrag der Verteidigung stattgegeben, was zugleich das Aus der seit knapp sieben Jahren andauernden Mammutverhandlung vor der Großen Wirtschaftsstrafkammer am Kieler Landgericht bedeutete.

370 Verhandlungstage seit September 2009, immer wieder Ablehnungsgesuche durch die sechs Pflichtverteidiger, eine 2011 auf Antrag des Gerichts abberufene Staatsanwältin, zuletzt eine über viermonatige Pause wegen Erkrankung von zwei der drei Angeklagten und eines Schöffen - bei diesem Gerichtsmarathon war Ausdauer gefragt. Ursprünglich aufgeklärt werden sollte die Frage, ob mehr als 700 000 Handynutzer durch gewerbsmäßigen Bandenbetrug um insgesamt rund 46 Millionen Euro geschädigt worden sind. Sie sollen der Anklage zufolge mit Scheinprofilen dazu animiert worden sein, möglichst viele Premium-SMS für 1,99 Euro pro Nachricht zu versenden. Eine Frau soll so um 23 000 Euro für ihren Traumpartner geprellt worden sein. Im Falle einer Verurteilung wäre ein Strafmaß von bis zu zehn Jahren möglich gewesen.

In der unendlich erscheinenden Beweisaufnahme erfolgte nun das abrupte Ende, weil während der langatmigen Vernehmung der laut Anklage Hauptgeschädigten, die bereits zuvor über 60 Mal im Zeugenstand der Verteidigung Rede und Antwort stand, ein Richter und ein Schöffe über 20 Minuten lang in verfahrensfremden Akten herumblätterten. Strafverteidiger Michael Gubitz und sein Kollege Wolf Molkentin bemerkten dies, weil zur Zeugenbefragung, wie in zig anderen Vernehmungen zuvor, immer wieder nahezu ähnlich aussehende Chatprotokolle in tabellarischer Form als schriftliche Grundlage dienten, am Richtertisch aber Unterlagen mit durchgehendem Fließtext studiert wurden.

Für diesen peinlichen Fauxpas blieb in der richterlichen Bewertung des Befangenheitsantrages nun gar keine andere Entscheidungsmöglichkeit, hatte der Bundesgerichtshof doch erst im Vorjahr in einem anderen Fall gerügt, eine Richterin aus Frankfurt habe der Beweisaufnahme während der Verhandlung nicht wie vorgeschrieben ihr uneingeschränktes Interesse zugewandt, da sie für nur wenige Sekunden eine vorformulierte SMS an ihre private Kinderbetreuerin abgeschickt hatte, um dieser mitzuteilen, dass ein Prozesstag länger dauern würde als geplant.

Es ist eigentlich ein Wunder, dass der Bund der Steuerzahler diesen richterlichen Fehltritt in Kiel noch nicht kommentiert hat. Das Verfahren hatte in seinen fast sieben Jahren geschätzte 1,5 Millionen Euro gekostet. Die drei Angeklagten, die sich nach 19 Monaten U-Haft auf freiem Fuß befinden, wurden zuletzt zum Teil sogar aus Thailand zu den Verhandlungsterminen eingeflogen. Wolfgang Kubicki, Bundes-Vize der FDP und selbst Strafverteidiger, spricht davon, dass das Gericht blamiert sei.

Niemand vermag momentan zu sagen, ob eine neue Hauptverhandlung angesetzt wird, die wieder bei Null beginnen müsste. Denkbar wäre nun auch eine Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer. Einem Angeklagten steht laut Europäischer Menschenrechtskonvention zu, dass über seinen Fall innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird.

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