Sympathie für die Teufel
Das Videospiel »Grand Theft Auto« ist ein Spiegel des aktuellen Terrors in westlichen Metropolen - ein Erfahrungsbericht
Ich habe an diesem Wochenende böse Dinge getan: Ich bin mit einem LKW zermalmend durch Menschenmengen gefahren, ich habe an belebten Orten Sprengladungen gezündet, ich habe rassistische Polizeigewalt gesehen und habe reihenweise daran unschuldige Polizisten mit dem Snipergewehr niedergestreckt, ich habe Unschuldige gefoltert und auf Grund der dadurch generierten (falschen) Informationen wiederum Unschuldige ermordet. Doch bin ich nicht Luzifer, und ist dies keine Neuauflage des Rolling-Stones-Songs »Sympathy For The Devil«: Ich habe mich an diesem Wochenende nur exzessiv dem Videospiel »Grand Theft Auto V« (GTA V) ausgesetzt - eines jener extrem gewalttätigen und erfolgreichen Produkte, die Innenminister Thomas de Maizière (CDU) gerade als mitverantwortlich für Amokläufe junger Menschen bezeichnet hat.
GTA V, dieses »Second Life« für Gewaltfans, ist ein Phänomen: Über 220 Millionen Spiele wurden von der Reihe verkauft, allein 60 Millionen Stück vom aktuellen Teil. Damit steht es in den Top Ten der meistverkauften Spiele neben Familienklassikern wie Tetris - und das, obwohl GTA wegen seiner Brutalität und der verwendeten expliziten Sprache erst ab 18 zu erwerben ist. Dieser Erfolg hat seinen Grund. Das Spiel ist ein zynisches Meisterwerk, ein finster funkelndes, krankes Juwel: Es gestattet den Spielern, als Akteure in einem Multimilionen-Dollar-Thriller mitzuspielen. Die Grafik hat in Version V einen Grad der geschmackvollen Perfektion erreicht, dass diese Illusion fast vollständig gelingt. Je nach Kondition ist es möglich, stunden-, ja tagelang in dieser völlig unmoralischen, künstlichen und doch bedrohlich realen Welt komplett zu versinken.
Dort kann man den aktuellen Terror der westlichen Metropolen nachspielen: ob man nun einen Sattelschlepper zur Waffe macht (Nizza), sich mit einer verrohten und schießwütigen Polizei anlegt (USA), mit der Pumpgun im Einkaufszentrum wütet (München) oder Geheimdienste ihre eigenen Anschläge initiieren. GTA verfolgt das Prinzip der Open World: Die Spieler können entweder der intelligenten Story folgen, in der der Aufstieg dreier Gangster erzählt wird. Oder sie können sich in einer meisterhaft der US-Metropole Los Angeles nachempfundenen Großstadt frei bewegen, Autos klauen, in die Peepshow gehen, Banken überfallen - und Terroranschläge oder Amokläufe begehen.
Das Spiel erlangt durch den darin gespiegelten Terror und durch de Maizières Attacken momentan große Aktualität. Dass man hier seine krankesten Gewaltfantasien hemmungslos ausleben kann - senkt das die Hemmung, auch real zur Tat zu schreiten? Oder funktioniert das Spiel eher als ein Blitzableiter, der Aggressionen kanalisiert?
Nach zwei achtstündigen Non-Stop-Selbstversuchen konnte ich (höchst subjektiv) bei mir keine der beiden Wirkungen feststellen - es dominierte einzig eine dumpfe Erschöpfung, körperlich und psychisch. Die Realität allerdings erschien plötzlich ziemlich anstrengend und unberechenbar, so dass die Versuchung, die Rollos herunterzulassen und mich direkt wieder in den GTA-Kosmos zu verabschieden, riesig gewesen wäre - hätten nicht da draußen Familie, Freunde, Aufgaben, ein positives Leben auf mich gewartet. Mein (völlig unwissenschaftlicher) Befund: Kann es sein, dass es weniger die gespielten Inhalte sind (Gewalt etc.), die die Menschen ins Unglück treiben, als der Akt des täglichen, stundenlangen Videospielens selber: jener Strudel aus trügerischer Geborgenheit, Abkapselung, verpassten Lebens-Gelegenheiten, Vereinsamung, geistiger und körperlicher Erschlaffung und daraus folgendem Lebensüberdruss? Und ist nicht (wie bei der Drogenabhängigkeit) jener Mensch gegen die dumpfe Suchtroutine gefeit, auf den Verpflichtungen und Liebe warten? Ist nicht statt der Gewaltspiele eine viel allgemeinere Lebensleere schuld an Amokläufen?
Die Sozialforscher streiten über das Thema. Eine Studie der Freien Universität Berlin kam vor einigen Jahren zu folgendem Ergebnis: »Wir haben festgestellt, dass gewalttätige Computerspiele die Kinder nicht aggressiver machen, sondern dass aggressive Kinder zu gewalttätigen Computerspielen tendieren«, erklärte damals Caroline Oppl, eine der Leiterinnen der Studie. Es hätten sich außerdem »keine Unterschiede zwischen den sozialen Milieus gezeigt«. Andere Forscher wie die US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Rowell Huesmann und Thomas Johnson widersprechen diesem Befund. Die Piratenpartei legt sich in einer aktuellen Reaktion auf de Maizière dagegen fest: Sie bezeichnet die jüngste Geißelung der »Killerspiele« durch den Innenminister als »billigen Populismus«, mit dem davon abgelenkt werden solle, »dass es in Deutschland Schülern möglich ist, sich scharfe Waffen und Munition in großer Zahl zu besorgen«.
Und da ist man wieder bei GTA. Denn in dem Spiel werden Populismus, Doppelmoral und Heuchelei der westlichen Eliten so radikal vorgeführt wie in wohl keinem anderen aktuellen Medium: etwa jene Heuchelei, dass westliche Medien und Politiker Gewalt selektiv stark fördern (Maidan, Syrien), westliche Waffen in alle Welt verschifft werden und selektiv die Gewaltmonopole bestimmter Staaten in Zweifel gezogen werden - während gleichzeitig gedacht wird, solche Gewaltrechtfertigungen könnten nicht auch labile potenzielle Amokläufer für sich einfordern.
GTA räumt mit der westlichen und neoliberalen Selbstbeweihräucherung auf. Gnadenlos. Im Autoradio laufen gut gelaunte Aufrufe gegen »die Armen, die Nutzlosen und die Verkrüppelten. Oh yeah, wie sehr hasse ich diese nutzlosen Verkrüppelten!« Es bejubeln Großindustrielle in Werbespots, dass ihre Corporations vom Obersten Gerichtshof endlich die gleichen Rechte wie menschliche Individuen zugesprochen kriegen. Die US-Privatarmee »Merrywater« führt verbrecherische Schattenkriege, nicht nur auf der ganzen Welt, sondern neuerdings auch im Inland. FBI und CIA sind vollständig korrupt und wahlweise in persönliche Bereicherung oder in Terrorattacken unter falscher Flagge verwickelt, ihre Agenten beugen das Recht und erpressen Sadisten, die für sie die dreckige Waterboarding-Arbeit übernehmen müssen. Die Medien haben ihre Arbeit vollständig eingestellt und sind zu rassistischen, die Unterschicht hassenden Werbeagenturen für den militärisch-industriellen Komplex verkommen. Sie hören sich an, als würden sich Donald Trump und Rush Limbaugh einen Wettstreit in Hatespeech liefern. Und unter all dem wummert der fette Hip-Hop-Beat.
GTA ist allerdings durch diese fundamentale Gesellschaftskritik und durch die klugen Dramaanteile in der Story ein absoluter Sonderfall. Das Spiel, die Grafik, die Handlung, die Musik, die ganze Fuck-You-Haltung - all das ist so klug gemacht, dass man hier tatsächlich irgendwann große Sympathie für die Teufel, also die Gangster, empfindet. Die meisten anderen »Killerspiele« wie »Call Of Duty« (Konsole) oder »Modern Combat« (mobil) legen den Fokus voll auf das Militärische, pflegen Waffenfetischismus, Patriotismus und (durch die Wahl des jeweiligen ausländischen Bösewichts) Volksverhetzung.
Dagegen wirkt GTA geradezu wehrkraftzersetzend. Und es ist wunderbar selbstironisch. Eine der Hauptfiguren ist ein Gangster mit Familie, der sich zur Ruhe gesetzt hat. Eines seiner größten Probleme sind nicht Ex-Partner, die ihm nach dem Leben trachten (obwohl es die auch gibt), sondern es ist sein degenerierter, antriebsloser und videospielsüchtiger Teenager-Sohn. Der erfüllt nämlich de Maizières Kriterien für einen potenziellen Amokläufer. Er sitzt den ganzen Tag im abgedunkelten Zimmer - und spielt: Grand Theft Auto.
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