»Rote Lampen blinken an vielen Stellen«

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann über die neuen Herausforderungen für deutsche Gewerkschafter

  • Lesedauer: 7 Min.

Die IG Metall hat jüngst den Startschuss für ihre Arbeitszeitkampagne »Mein Leben - Meine Zeit« gegeben. Zufrieden mit dem Auftakt?
Ich bin fest überzeugt, dass das Thema Arbeitszeit als eine zentrale politische Priorität angekommen ist. Das haben unsere jüngst zu Ende gegangenen Bezirkskonferenzen deutlich gemacht, auch nach der Diskussionshäufigkeit und -vielfalt. Arbeitszeit ist ein Thema, das zündet.

... bei den Mitgliedern, gesamtgesellschaftlich, medial?
Auf allen Ebenen. Wir haben mit unserer Beschäftigtenbefragung 2013 gesehen, wie wichtig Arbeitszeit in der Breite unserer Mitgliedschaft ist. Eine Konsequenz aus den Diskussionen der letzten Jahre war, in der Tarifrunde 2015 Forderungen zu Alters- und Bildungsteilzeit zu stellen. Ich glaube, die Arbeitszeitdebatte ist auch im öffentlichen Diskurs virulent und in vielen Politikfeldern präsent; beispielsweise durch das »Grünbuch 4.0« der Bundesregierung, das sich mit den Folgen der Digitalisierung auseinandersetzt.

Wenn Sie von oben auf den Organisationsbereich der IG Metall gucken, wo blinken die roten Lampen? Wo besteht der größte Handlungsbedarf?
Das ist eine Schwierigkeit der Anlage dieser Kampagne: Rote Lampen blinken an vielen Stellen. Wir diskutieren daher auch über die Prioritätensetzung, denn wir werden nicht alle Lampen mit einem Schlag ausschalten können.

Und was sind die Prioritäten?
Lassen Sie mich drei benennen: Der DGB-Slogan aus den 1950er Jahren »Samstags gehört Vati mir« ist in vielen Betrieben keine Realität mehr. Das gilt für den direkten Bereich im Schichtbetrieb, das gilt für den indirekten Bereich, wo sich Leistungsdruck in längeren Arbeitszeiten niederschlägt.

In der Bewältigung der Finanzmarktkrise vor einigen Jahren ging es um Arbeitsplatzsicherheit. Die Verbindung von Arbeitszeit und Arbeitsplatzsicherheit ist in Schönwetterperioden der Beschäftigung nicht unbedingt das Drängendste, meint man. Aber das Thema bleibt aktuell, allein schon wenn man darauf blickt, wie sich die digitale Transformation weiter entwickelt.

Zu guter Letzt geht es um die Lebensarbeitszeit: Über Arbeitszeiten und Arbeitszeitansprüche wird auch mitbestimmt, wie eine Erwerbsbiografie aussieht.

Das heißt konkret?
Wenn Kinder da sind, gab es früher zwei klassische Antworten - entweder die Frau blieb zu Hause, oder die Oma ist eingesprungen. Heute geht es um Partnerschaft und Gleichberechtigung im Berufsleben und die Oma wohnt nicht mehr um die Ecke. Wie gehen wir damit um? Arbeitszeitpolitik kann, neben vernünftiger Infrastruktur, helfen, unterschiedliche Lebenslagen abzufedern und damit zur Gleichstellung beitragen und nicht zur indirekten Diskriminierung derer, die sich um Kinder oder Familienangehörige kümmern. Das heißt aber auch: Wie können wir Arbeitszeit so gestalten, dass für ältere Beschäftigte die Chance besteht, sich weiterzubilden oder auch kürzer zu treten, wenn in der Familie ein Pflegefall auftritt? Da sprechen wir über ein ganz klassisches Thema, nämlich über Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleichselementen - kollektiv ausgehandelt, aber selbstbestimmt gestaltbar und mit einem klaren Anspruch für alle.

Einiges ist über Betriebsvereinbarungen schon geregelt.
Wir wollen aus den wenigen Leuchttürmen betriebspolitischen Handelns gemeinsames weitflächiges Handeln machen. Das ist zugegebenermaßen eine große Herausforderung. Die IG-Metall-Betriebsräte haben einen Teil ihrer Lufthoheit bei Arbeitszeitfragen in den letzten Jahrzehnten eingebüßt. Um Terrain zurückzugewinnen, müssen wir die Beschäftigten beteiligen, sie mitnehmen. Man merkt ja schnell: Jeder und jede Beschäftigte kann zum Thema Arbeitszeit etwas sagen.

Und: In Deutschland werden pro Jahr Millionen unbezahlte Überstunden geleistet. Das ist zutiefst ungerecht. Hier geht es nicht um das Recht, dass diese erfasst und vergütet werden, hier geht es darum, dieses Recht im Betrieb durchzusetzen. Das kann man sehr konkret und kurzfristig machen.

»Thüringen will die 35-Stunden-Woche«, hieß es unlängst, und in einer Pressemitteilung aus Sachsen stand: »Lieber 30 Stunden für alle als 40 für Männer und 20 für Frauen.« Wie steht es um die Diskussion über eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung?
Die Ost-West-Angleichung der tariflichen Arbeitszeiten steht weiter im Raum. Es geht aber auch um eine gerechtere Verteilung des Arbeitsvolumens, zwischen denen, die endlos arbeiten und denen, die allenfalls einen Mini-Job haben und gerne mehr arbeiten wollten. Wie wir mehr Gerechtigkeit und mehr Selbstbestimmung ins Arbeitsleben bringen und wie wir der Entgrenzung der Arbeitszeit etwas entgegensetzen können. Über eine allgemeine kollektive Arbeitszeitverkürzung gibt es in der IG Metall heute keine irgendwie signifikante Debatte.

Was halten Sie von Überlegungen der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, das Arbeitszeitgesetz sei mit Blick auf die zunehmende Digitalisierung in einigen Punkten »zu starr«?
Das Arbeitszeitgesetz ist ein Gesetz, das Mindestbedingungen für die Arbeitszeit formuliert und auch tarifvertragliche Öffnungsklauseln beinhaltet. Viel wichtiger wäre mir, dass das, was im Arbeitszeitgesetz steht, konsequent umgesetzt wird als irgendwelche Debatten über Gesetzesänderungen. Sie kriegen doch heute für einen Antrag auf Sonntagsarbeit im Prinzip über ein Blankoformular schon eine positive Antwort. Gewerbeaufsichtsbehörden müssen die Kontrollmöglichkeiten konsequenter nutzen.

Und wenn es notwendig wird, etwa im Kontext mobilen Arbeitens, die tariflichen Bedingungen für Ruhezeiten neu zu definieren, dann muss man sich das in Ruhe anschauen.

Es gibt aber keinen grundsätzlichen Veränderungsbedarf und schon gar keine Logik, dass die neue, digitale Welt von morgen, keine Regeln verträgt, wie es die Arbeitgeberseite verfolgt.

Was wären denn nötige Forderungen an den Gesetzgeber?
Wie unterstützt die Politik an Lebenslagen orientierte Arbeitszeiten? Da sind wir im Sozialrecht und im Steuerrecht. Wie gehen wir mit Leistungsüberforderung durch ausufernde Arbeitszeiten um? Da sind wir beim Mitbestimmungsrecht oder bei Arbeitsschutz. Wer Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung alleine auf das Arbeitszeitgesetz bezieht, springt entschieden zu kurz.

Die Digitalisierung bringt die Möglichkeit einer Flexibilisierung der Arbeit mit sich. Ist das nur schlecht?
Man muss den Begriff Flexibilisierung hinterfragen. Das wird ja schon fast als zwingende Notwendigkeit gesehen, dabei wird Mittel und Zweck verwechselt. Im Unternehmen brauchen sie Flexibilität, um eine Stabilität der Auslastung zu sichern oder die jederzeitige Erreichbarkeit für den Kunden. Aber was für Kapital und Kunden gilt, muss auch für die Beschäftigten gelten: Flexibilisierung ist keine Einbahnstraße. Wir fragen als erstes: Welche Voraussetzungen brauchen wir, damit wir eine stabile Perspektive für die Beschäftigten sichern können; bei der Arbeitszeit, bei den Arbeitsverhältnissen und beim Einkommen. Flexibilität als Mittel: Ja. Aber bitte nicht nur im Arbeitgeberinteresse.

Inwieweit zielt die Arbeitszeitkampagne auf die nächste Metall- und Elektrotarifrunde? Die IG Metall rechnet 2018 mit einer harten Auseinandersetzung.
Die Kampagne ist auf einen längeren Zeitraum angelegt als bis 2018. Wir werden nicht alle Handlungsbedarfe beim Thema Arbeitszeit in einem Rutsch tarifpolitisch lösen können. Wie gesagt: Wir müssen langfristig betriebspolitisch Terrain gewinnen. Da sehe ich uns auf einem guten Weg.

Der Arbeitssoziologe Klaus Dörre hat in seinem letzten Buch angemerkt, die IG-Metall-Führung halte sich bei der politischen Mitwirkung zurück und vermeide eher Konflikte. In der Zeitung für sozialistische Gewerkschaftspolitik, »express«, war zugespitzter zu lesen: Die IG Metall entwickle sich zu einer streikunerfahrenen, inhaltlichen Schmalspurgewerkschaft, und sei vom Pragmatismus geleitet. Muss die Gewerkschaft radikaler werden?
Die Kritik vernachlässigt, dass sich die Wertschöpfungsketten verändert haben. Damit stellen sich soziale Machtgefüge anders dar als in den 1970er und 1980er Jahren. Da werden alte Handlungsmodelle als Maßstab genommen, die beizubehalten sein sollen. Das ist ein bisschen linke Nostalgie. Die Wertschöpfungsketten und Produktionsprozesse sind deutlich anfälliger geworden. Das verändert auch Wirkung und Gegenwirkung von Streiktaktiken.

Ein weiterer Punkt ist: Die Belegschaftsstruktur ist deutlich heterogener als früher. In den 1980er Jahren konnte man Politik auf einen Arbeitnehmertypus hin entwickeln: den männlichen Facharbeiter oder den Angelernten am Band in der Massenproduktion. Da lässt sich mit deutlichen Forderungen und klarem Profil nach innen und außen auftreten. Aber das kann sich eine Gewerkschaft, die den Anspruch hat, alle Beschäftigten in ihren Branchen zu vertreten, heute nicht mehr leisten. Wer also die politische Rhetorik zum Maßstab nimmt, aber das politische Handeln nicht mehr wahrnimmt, der hat ein Politikverständnis, bei dem ich daran zweifle, was er unter Politik versteht.

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