Der Preis der Wahrheit
Von Soldaten, Gelehrten und der Gabe, sich dem Ruhm zu verweigern
Sie entstammte einer Familie, in der vor allem die Wissenschaft das geistige Klima prägte. Als sie acht Jahre alt war, verunglückte ihr Vater tödlich. Sie kam daraufhin in die Obhut ihres Großvaters, dessen linksliberale Gesinnung auch die Entwicklung ihrer politischen Ansichten nachhaltig beeinflusste.
Unterrichtet wurde sie zunächst in einer Lernkooperative von Kindern, deren Eltern die Vermittlung des Stoffes in wichtigen Fächern selbst übernahmen. Später besuchte sie eine nicht konfessionsgebundene Privatschule, wo sie besonders in Mathematik und Chemie ihre Mitschülerinnen überflügelte. Nachdem sie mit 16 Jahren ein glänzendes Abitur abgelegt hatte, schrieb sie sich an der Universität ein und studierte Mathematik und Physik. Während des Ersten Weltkriegs unterbrach sie ihre Ausbildung, um ihrer Mutter zu helfen, die einen mobilen Röntgendienst für die Front organisiert hatte. Doch bald schon übernahm sie selbst eine Röntgenstation in einem Militärkrankenhaus und trug maßgeblich dazu bei, zahlreichen verwundeten Soldaten das Leben zu retten.
Nach dem Krieg schloss sie ihr Studium mit dem Lizenziat ab und arbeitete als unbezahlte wissenschaftliche Assistentin im Labor. Von einer Journalistin gefragt, ob die Karriere, die sie sich ausgesucht habe, nicht zu schwer sei für eine Frau, antwortete sie: »Überhaupt nicht. Ich glaube, dass die naturwissenschaftliche Befähigung von Männern und Frauen völlig gleich ist.« Mit 28 legte sie ihre Doktorprüfung ab. Danach war sie unter anderem damit beschäftigt, einen drei Jahre jüngeren Laboranten anzulernen, der zuvor eine Ausbildung als Physikingenieur absolviert hatte. Bereits nach einem Jahr heirateten beide. Mit 30 brachte sie ihr erstes Kind, eine Tochter, zur Welt. Fünf Jahre später wurde ihr Sohn geboren. Obwohl sie einmal erklärt hatte, ihr Leben ganz der Wissenschaft widmen zu wollen, war sie eine begeisterte Mutter und verbrachte viel Zeit mit ihren Kindern.
Sie und ihr Mann bildeten alsbald ein höchst erfolgreiches Forscherduo, dem auf dem Gebiet der Atomphysik eine bahnbrechende Entdeckung gelang. Dafür wurden beide mit höchsten Ehren bedacht. In der Folge lehrte sie als Dozentin an der Universität und war einige Monate als Staatssekretärin für Wissenschaft und Forschung tätig. Sie zählte nun zu den bekanntesten Frauen ihres Landes. Doch der Ruhm, der sie plötzlich umgab, änderte nichts an ihrem bescheidenen und geradlinigen Wesen. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, fuhr sie hinaus in die Natur. Sie liebte das Skifahren, war eine gute Schwimmerin und unternahm ausgedehnte Wanderungen im Gebirge. Letzteres tat sie auch, um sich von einer Tuberkuloseerkrankung zu erholen.
Als die Nazis in ihre Heimat eindrangen, verließ sie zunächst die Hauptstadt, kehrte dann aber in ihr Labor zurück. Erst gegen Ende des Krieges floh sie mit ihren Kindern in die Schweiz. Sie befürchtete Repressalien, denn ihr Mann hatte sich inzwischen dem aktiven Widerstand angeschlossen. Nach Ende des Krieges gehörte sie als Kommissarin der nationalen Atomenergiekommission an. Da sie jedoch für Organisationen arbeitete, die der Kommunistischen Partei nahe standen, wurde ihr Mandat nicht verlängert.
Insgesamt viermal bewarb sie sich um einen Sitz in der als frauenfeindlich geltenden Akademie der Wissenschaften und wurde viermal abgelehnt. In den letzten Jahren ihres Lebens vertiefte sie sich erneut in die wissenschaftliche Arbeit und engagierte sich in der pazifistischen Frauenbewegung. Dann erkrankte sie an Leukämie, was vermutlich auch daran lag, dass sie bei der Suche nach Wahrheit oft zu nachlässig mit ihrer Gesundheit umgegangen war. Im Alter von 58 Jahren starb sie.
Wer war’s?
Lösung Nr. 222
Beim letzten Mal fragten wir nach dem Komponisten Frédéric Chopin.
Gewonnen haben:
Fred Möpert, Berlin,
Kerstin Lassak, Halberstadt,
Helmut Weise, Schwedt.
Rätselantworten per Post an: neues deutschland, Steckbrief, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, oder per E-Mail an: steckbrief@nd-online.de
Die Einsender/Gewinner erklären sich mit der Veröffentlichung ihrer Namen und Wohnorte einverstanden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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