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Ein hausgemachtes Problem

Prekarität, Amok und Terror - ein gern und oft übersehener Zusammenhang

  • Hans-Peter Waldrich
  • Lesedauer: 6 Min.

Während Frankreich und nun vielleicht auch Deutschland von einer islamistischen Terrorwelle überzogen werden, tauchte in München plötzlich ein Attentäter auf, der nicht in das Muster passt: ein Amokläufer. Zwar tötete er Menschen nicht wie in ähnlichen Fällen der jüngsten Vergangenheit in einer Schule, doch ansonsten passt fast jedes der typischen Merkmale eines Schulamoklaufs exakt auf diesen Täter: die zutiefst verunsicherte, sozial isolierte Persönlichkeit, die seelische Gestörtheit, das Maßnehmen an idolisierten »Helden« des Massentötens, in diesem Falle an dem narzisstischen Psychopathen Anders Behring Breivik, schließlich die lange Vorbereitung der Tat durch ein virtuelles Training mit Hilfe von Ego-Shooter-Spielen. Der Täter hat sich offenbar lediglich einen anderen Ort für sein Massaker ausgesucht.

Die Erleichterung, die um sich griff, weil es sich nicht um einen islamistischen Anschlag handelte, wirft gleichwohl die Frage auf, ob es Gemeinsamkeiten geben könnte zwischen dem, was wir als Schulamoklauf einstufen, und den »politischen« Attentaten, die uns zur Zeit hauptsächlich in Atem halten. Diese Gemeinsamkeit gibt es sehr wohl, das zeigt ein weiterer Anschlag. In diesem Fall zündete in Ansbach ein 27 Jahre alter Syrer eine selbst gebastelte Bombe, die er in seinem Rucksack mitführte. Die Auswirkungen blieben überschaubar, aber nur, weil die Bombe laienhaft konstruiert war. Auch wenn die konkreten Tatmotive in diesem Fall in manchen Punkten von den Motiven des Münchner Attentäters abweichen, zeigt sich doch eine Schnittmenge im Hinblick auf die Faktoren, die als Auslöser in Frage kommen.

Sie liegt in einer deutlichen Gemeinsamkeit: nämlich in der sozialen und seelischen Verunsicherung, die den Hintergrund beider Taten bildet. Mohammed D., der Ansbacher Täter, litt aufgrund schlimmer Erfahrungen in seinem Heimatland unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung und wie auch der Münchner Attentäter war er in psychiatrischer Behandlung. Ob er bereits in Syrien als ein Agent des IS angeworben worden war, spielt dabei keine Rolle, denn der IS sucht im Kriegsgebiet wie auch in Europa gezielt nach solchen psychisch geschwächten Persönlichkeiten. Wer verunsichert und orientierungslos ist, kommt als Gotteskrieger oder als Märtyrer in Frage.

Sowohl bei dem Münchner Amokläufer wie auch bei dem Ansbacher Täter haben wir es also mit einem zentralen Faktor zu tun, der zur Zeit offenbar bei fast allen öffentlichen Gewaltattacken und deren Bedingungsgefüge eine Rolle spielt: dem Faktor der Prekarität. »Prekarität«, eine Wortbildung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, bezeichnet die Ausbreitung von Unsicherheit und zwar sowohl sozialer wie auch psychologischer Art. Prekarität existiert in vielen Weltgegenden. Bei neoliberal geprägten Gesellschaften ist sie System und wird durch vielfältige Deregulierungen und Entsolidarisierungen vorangetrieben.

Wir müssen also nicht unbedingt das Chaos im Nahen Osten als Erklärungsgrund für die gegenwärtigen Gewaltwellen bemühen, es reicht, die Zustände innerhalb Europas selbst in Augenschein zu nehmen. Der überwiegende Teil der Attentäter, mindestens seit dem Überfall auf Charlie Hebdo, kam nicht direkt aus den Kriegsgebieten des IS, sondern aus den Vorstädten von Paris oder Brüssel. Man braucht also kein Soziologe zu sein, um zu erkennen: Terrorismus ist ein hausgemachtes gesellschaftliches Problem. .

Diese Aussage trifft auf jeden Fall auf Frankreich zu, doch Verhältnisse wie die in unserem Nachbarland sind bei uns zumindest im Ansatz ebenfalls vorhanden oder könnten sich in naher Zukunft denen Frankreichs angleichen. Denn in Frankreich haben sich regelrechte Ghettos gebildet, in denen die Unterprivilegierten leben. Dass es sich bei den Menschen dort häufig um Einwanderer aus den ehemaligen französischen Besitzungen etwa in Nordafrika handelt, zeigt nur, dass es in Frankreich nicht wirklich gelungen ist, diese Menschen zu integrieren. Aber die zweite bzw. dritte Generation dieser in den Banlieus lebenden Menschen scheint sich nicht mehr ergeben in ihr Schicksal zu fügen, sie reagiert und antwortet auf ihre Weise auf das, was man ihr zumutet, wenn auch auf eine zunächst irritierend schwer verständliche Art. Doch es gilt, diese verschlüsselten Ausdrucksformen der Prekarität auf ihren psychologischen Sinn hin zu entziffern - ein Unterfangen, das neoliberalen Eliten wenig genehm ist.

Vorboten dieser Reaktion waren etwa die massenhaften Jugendunruhen in den Banlieus 2005. Der französische Soziologe Robert Castel hat die neue »soziale Frage« in den Vorstädten untersucht und sie unmittelbar mit dem damals ausufernden Vandalismus in Zusammenhang gebracht. Massenarbeitslosigkeit bei Jugendlichen, schlechte Bildungschancen, Zurücksetzung, weil man ausländischer Herkunft ist und das an der Hautfarbe oder am Namen deutlich wird, die Unsicherheit bei den Arbeitsverhältnissen, alles führe zwangsläufig, so Castel, zu Gewaltausbrüchen, wenn auch damals vorwiegend noch ohne konkretes Ziel. Die No-Future-Generation machte sich Luft, indem sie Autos anzündete.

Was damals noch ziellose Zerstörungswut war, hat unterdessen fassbare ideologische Konturen angenommen. Sinnvolle Lebenskonzepte sind unter prekarisierten Verhältnissen Mangelware. Wo junge Menschen einfach keinen Einstieg ins Leben finden, sich weder nützlich machen können, noch erfahren, dass sie geschätzt und anerkannt werden, da bieten sich Ersatzlösungen an. In Ermangelung eines Besseren greifen einige aus ihrer Mitte daher auf negative Konzepte zurück und auf negative Idole: Adolf Hitler und der Nationalsozialismus kommen in Frage oder viel »besser« noch, weil sie zugleich soziale Einbindung verspricht: eine pervertierte Form des Islam im Dienste Allahs.

Psychologisch gesehen geht es dabei keineswegs um die austauschbaren Inhalte. Es geht um psychische Kompensation und zwar der erlebten Prekarisierung. Wie solche Kompensation inhaltlich aussieht, ist von sozialen Randbedingungen abhängig, etwa vom Zufall, ob man von Salafisten angesprochen und geworben wurde oder vielleicht auf den Nazikult im Internet gestoßen war. So kann ein junger Mensch Befriedigung in der Vorstellung finden, ein überlegener »Arier« zu sein, wie der Münchner Ali David S., der iranischer Abstammung war und daher aus seiner Sicht keiner minderwertig arabischen, während andere junge Leute situationsbedingt lieber das salafistische Angebot annehmen, »fromm« werden und sich auf den Weg nach Syrien machen.

Vorausgegangen ist in allen Fällen eine grundsätzliche Verabschiedung von den politisch vielfach beschworenen »westlichen Werten«, von deren Segnungen man bislang vorwiegend die Negativseite mitbekam. Nach Ansicht des französischen Sozialwissenschaftlers und Islamexperten Gilles Kepel sind Demokratie oder Freiheit in den Kreisen der Prekarisierten keine Ideale. Daher passt das Angebot der Salafisten sehr gut auf ihre Situation. Denn die Salafisten »wollen den Bruch mit der europäischen Kultur. Sie sind überzeugt, dass die Demokratie von ›Ungläubigen‹ gemacht wurde, weil dort eben der Demos regiert - und nicht Allah«, so Kepel. Die Sicherheit in einer totalitären Gemeinschaft, wie sie von Islamisten angeboten wird, scheint die weit bessere Option zu sein, wenn sich die Segnungen von Freiheit und Demokratie für das eigene Leben in keiner Weise ausgezahlt haben.

Freilich bedeutet alles dies keineswegs, dass jeder diskriminierte Jugendliche zur Gewalt greifen oder gar Terrorist werden muss. Wird jedoch eine Gesellschaft so organisiert, dass im ökonomischen Kampf aller gegen alle Großgruppen entstehen, die am Wettlauf der »Ich-AG's« und Einzelkämpfer in die Versagerrolle gedrängt werden, muss zumindest mit dem gelegentlichen Auftauchen extremer Gewaltausbrüche gerechnet werden.

Der Verfasser ist Politologe und Pädagoge und Autor des Buches »In blinder Wut. Warum junge Menschen Amok laufen«, PapyRossa Verlag, Köln 2007.

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