Recht als Ritual
Die Debatte über verhinderte Erdogan-Rede in Köln unterschlägt mehrere tolerierte Reden in der Vergangenheit
Der Zwist zwischen Europäischer Union und der Türkei wächst sich aus. Das Redeverbot für Präsident Erdogan auf einer Demonstration von 40 000 Türken am Wochenende in Köln verschärft die Lage - auch wenn es nur um eine Videoübertragung ging. Es handele sich um eine Verletzung demokratischer Spielregeln, um einen Bruch des Versammlungsrechts, wurden die empörten Veranstalter zitiert. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag selbst sprach von einer »Schande« für Demokratie und Recht. Das Verbot der Übertragung sei auf »widerrechtliche und unhöfliche Art« erfolgt.
Der Groll Ankaras vermischt sich mit dem auf die EU-Gremien, die der Türkei den Beitritt nicht zu erleichtern bereit sind. Das Ultimatum des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu, der von der EU die Einführung einer generellen Visafreiheit bis Oktober gefordert und mit der Aufkündigung des EU-Flüchtlingspakts gedroht hatte, ist kaum von der Debatte über die Erdogan-Rede zu trennen. Der Flüchtlingspakt war unter wärmstem Fürspruch Berlins und dessen Vermittlung zustande gekommen. Auch deutsche Medien machen kaum einen Unterschied, wenn sie als »Reaktion der EU« auf Ankaras Ultimatum den deutschen Vizekanzler Sigmar Gabriel zitieren, der vor Erpressung warnte.
Das Irrationale dominiert. Und Deutschland kann nicht für sich in Anspruch nehmen, daran keine Schuld zu tragen. Einerseits irrt der türkische Präsident, wenn er meint, unter Berufung auf das Versammlungsrecht eine Rede in Deutschland erzwingen zu können, auch wenn er das unter Berufung auf gemeinsame demokratische Werte tut. Andererseits ist Erdogans Verwunderung nachvollziehbar - darüber nämlich, dass ihm nun verboten wurde, was ihm 2008 und 2014 erlaubt war. Zweimal bereits durfte sich Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, in Köln vor Tausenden Deutschtürken in Wahlkampfreden produzieren. Seine Kritik im Februar 2008 an der den Türken aufgenötigten Assimilation in Deutschland, die er ein »Verbrechen« nannte, ließ die Wogen der Erregung hochschlagen. Dass er überhaupt eine Rede gehalten hatte, dass er diese zu klarer Werbung für seine Partei, die AKP, nutzte, ohne dass dies wenigstens seinen Konkurrenten bei der türkischen Parlamentswahl in gleicher Weise gestattet worden wäre - all das brachte das Rechtsempfinden in Deutschland damals kein bisschen durcheinander.
Doch das Versammlungsrecht hätte eine Sondererlaubnis schon damals erfordert. Das Versammlungsrecht ist ein Recht der Bürger eines Landes gegenüber dem eigenen Staat, kein Recht, das die Beziehungen zwischen Regierungen betrifft. Am letzten Wochenende noch, am Tag vor der Kundgebung im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Deutz, hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit dem Ansinnen beschäftigt. Es lehnte den Erlass einer Einstweiligen Anordnung, wie ihn die Veranstalter verlangten, ab. Aus formalen Gründen; die Vollmacht ihrer Anwälte hatte nicht den Vorschriften entsprochen. Doch auch eine inhaltliche Bemerkung machte das Gericht: Es sei nicht ersichtlich, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen Grundrechte der Demoveranstalter verletzt hätten. Diese Vorentscheidungen sind es, die einen Blick auf die Rechtslage erlauben.
Zunächst hatte das Verwaltungsgericht Köln die Zuschaltung persönlich nicht anwesender Redner untersagt und damit die geplante Fernschalte Präsident Erdogans platzen lassen. Das als nächste Instanz angerufene Oberverwaltungsgericht Münster bestätigte und begründete die zugrunde liegende Rechtsauffassung. Zwar habe der Veranstalter das Recht zu entscheiden, wer auf seiner Demonstration das Wort ergreift. Jedoch liege die Zuschaltung eines ausländischen Staatsoberhauptes per Liveübertragung »erkennbar außerhalb« des Schutzzwecks der Versammlungsfreiheit, zitierte »Spiegel online« aus der noch nicht veröffentlichen Urteilsbegründung des Gerichts. Erdogan selbst könne sich nicht auf eigene Grundrechte berufen. Diese Grundrechte seien vor allem Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Die Rechte der Veranstalter wiederum sind eingeschränkt durch die Zuständigkeit in diesem Fall. Die »Möglichkeit ausländischer Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder zur Abgabe politischer Stellungnahmen im Bundesgebiet« gehöre zur »Außenpolitik« und sei damit »Sache des Bunds«, also der Bundesregierung.
Es ist beliebtes Ritual, im Namen des Rechts zu argumentieren. Falls Ankara den Flüchtlingspakt aufkündigen sollte, wird dieses Ritual wieder zu betrachten sein. Doch Recht ist nur belastbar, wenn es gerade recht kommt. Der Flüchtlingspakt selbst ist rechtlich umstritten, weil er die Türkei zum sogenannten sicheren Herkunftsland erklärt. Eine Beschreibung, die längst nicht für jeden gilt, wie gerade die aktuellen Entwicklungen am Bosporus zeigen.
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