Menschenrechtsbeauftragte stellt Anti-Asyl-Deal infrage

SPD-Politiker Kofler: Müssen angesichts der Repressionen in der Türkei umdenken / Griechische Regierung fordert Plan B für den Fall des Scheiterns

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Berlin. Linken-Parteichef Bernd Riexinger hat eine Abkehr vom EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und eine europäische Lösung gefordert. »Der Deal ist gescheitert«, sagte Riexinger am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP. »Die EU muss einen solidarischen und nachhaltigen Weg im Umgang mit Geflüchteten finden, sonst ist die Staatengemeinschaft am Ende.« Riexinger forderte die Bundesregierung auf, Verantwortung zu übernehmen und die Vertreter der EU an einen Tisch zu bringen.

»Wegschauen, Schweigen und sich nicht die Hände schmutzig machen, so sieht die momentane 'Taktik' der EU aus«, kritisierte der Linken-Vorsitzende. »Das Auslagern der Geflüchteten vor die Tore Europas, schmutzige Deals und Abschottung funktioniert nicht und verstoßen gegen die Grundwerte demokratischer, freiheitlicher und rechtsstaatlicher Gemeinschaften.«

Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler kritisiert den Deal

Der umstrittene Anti-Asyl-Deal mit der Türkei kann nach Ansicht der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Bärbel Kofler, nicht so beibehalten werden. »Das Abkommen setzt Rechtsstaatlichkeit auf allen Seiten voraus. In der Türkei ist diese zurzeit nicht gegeben. Da ist es falsch, wenn wir rechtsstaatliche Entscheidungen dorthin auslagern«, sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. »Im Lichte der aktuellen Entwicklungen in der Türkei müssen wir umdenken«, betonte Kofler mit Blick auf die Welle von Verhaftungen und Entlassungen in dem Land und forderte: »Es braucht eine Neubewertung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens.«

Zwar habe die Türkei viele Anstrengungen zur Versorgung der drei Millionen Syrer im Land unternommen. Auch sei es richtig, dass Deutschland und die EU sich finanziell daran beteiligten. »Vieles an dem Flüchtlingsabkommen funktioniert jedoch nicht«, sagte Kofler und beklagte »verschwindend geringe« Zahlen von Syrern, die seit der Unterzeichnung des Abkommens im März legal aus der Türkei in die EU eingereist seien. Problematisch sei zudem die Asylantragstellung in der Türkei: »Wir wissen, dass die Bearbeitung der Asylanträge von Afghanen, Irakern und Iranern in der Türkei nicht nach rechtsstaatlichen Regeln erfolgt. Darüber kann die EU, darüber können auch wir nicht einfach hinwegsehen.«

Bundesregierung reagiert auf Vorwürfe

Auf die kritischen Äußerungen ihrer Menschenrechtsbeauftragten hat die Bundesregierung klargestellt, dass sie an dem EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhält. »Die EU und die Bundesregierung stehen zu der Vereinbarung mit der Türkei und gehen davon aus, dass die Türkei das Abkommen erfüllt«, sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Mittwoch in Berlin.

Das Abkommen sei nicht »perfekt« und auch noch nicht in allen Punkten umgesetzt, sagte auch der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer. Aber die Bundesregierung stehe »in vollem Umfang hinter diesem Abkommen«.

Schäfer stellte klar, dass die Ansichten der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), und der Bundesregierung in diesem Punkt nicht hundertprozentig identisch seien. Kofler habe in ihrer Funktion als Merschenrechtsbeauftragte eine ganz besondere Rolle und sei nicht »Eins zu Eins in die Hierarchie der Bundesregierung« eingebunden, sagte er. Kofler stehe es frei zu sagen, was sie für richtig halte.

Griechische Regierung fordert Plan B

Derweil hat die griechische Regierung die EU zu Planungen für den Fall aufgerufen, dass der Anti-Asyl-Deal mit der Türkei von Ankara aus zum Scheitern gebracht wird. Seine Regierung sei über die Drohungen der türkischen Regierung »sehr beunruhigt«, sagte Migrationsminister Yiannis Mouzalas der »Bild«. »Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B.« Die EU müsse sich Gedanken machen für den Fall, dass die Türkei ihre Grenzen für Flüchtlinge wieder öffne, verlangte der Minister. Zugleich forderte Mouzalas die EU-Staaten zu mehr Einsatzbereitschaft bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf: »Die Flüchtlinge müssen gleich an alle EU-Staaten verteilt werden - und nicht an einzelne.«

Die EU-Kommission hat griechische Forderungen nach einem »Plan B« für die Flüchtlingskrise zurückgewiesen. »Die Kommission hat einen Plan A und der besteht darin, den EU-Türkei-Deal zum Erfolg zu führen«, sagte eine Sprecherin am Mittwoch in Brüssel. Zudem sei das Abkommen mit der Türkei lediglich ein Teil der europäischen Antwort auf die Flüchtlingskrise. Dazu gehörten genauso die Umverteilung von Flüchtlingen auf andere EU-Staaten, Finanzhilfen, das Projekt einer europäischen Grenz- und Küstenwache und viele weitere Maßnahmen.

Visafreiheit gegen Flüchtlingspakt

Die Türkei fordert derzeit ultimativ die Visafreiheit für ihre Staatsbürger ein, die sie von der Europäischen Union im Gegenzug für den Flüchtlingspakt versprochen bekommen hat. Ankara verlangt nun das Ende der Visumpflicht bis spätestens Oktober, sonst werde das Abkommen platzen. Unter dem Mitte März geschlossenen Abkommen nimmt die Türkei seit April auf den griechischen Inseln ankommende Flüchtlinge zurück. Dabei wurde ein besonderer Mechanismus für die Flüchtlinge aus Syrien vereinbart: Für jeden zurückgeführten Syrer nehmen die EU-Staaten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf. Seither ist die Zahl der Flüchtlinge, die übers Meer in Griechenland ankommen, stark gesunken.

Unter dem Abkommen werden Flüchtlinge wieder in die Türkei abgeschoben. Doch für jeden angekommenen syrischen Flüchtling, erhält ein syrischer Flüchtling in der Türkei die Erlaubnis nach Europa einzureisen. Dadurch sind die Flüchtlingszahlen in Europa deutlich gesunken, da sich für viele Geflüchtete die lebensgefährliche Überfahrt nicht mehr direkt rentiert. Die Vereinbarung ist daher sehr umstritten und die Kritik an der Zusammenarbeit mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nimmt aufgrund der innenpolitischen Ereignisse in der Türkei und dem immer autoritärem Auftreten des Präsidenten zu.

»Es ist ungeheuerlich, wie sich die Bundesregierung wegduckt und damit einem undemokratischen Staatschef wie Erdogan zu großer Macht verhilft«, erklärt der Linken-Chef Bernd Riexinger. »Der Deal mit der Türkei verstößt gegen fundamentale Menschenrechte, gegen das Recht auf individuellen Flüchtlingsschutz und hebelt die Genfer Menschenrechtskonvention aus.«

Riexinger rief dazu auf, die Gründe für Flucht und Vertreibung zu bekämpfen. »Solange Fluchtursachen bestehen bleiben werden Menschen keinen anderen Ausweg sehen, als zu fliehen«, sagte er. »Für sie bedeutet mehr Abschottung nur eins: mehr Lebensgefahr.« Agenturen/nd

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