Gold für den Kühlschrank

Thilo Neumann wollte nur mal beim Gewichtheben ausspannen, erlebt dann aber einen Olympiahöhepunkt

  • Thilo Neumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Als alles vorbei ist, fällt er auf die Knie, dieser Kühlschrank aus Muskeln und Knochen, eingepackt in seinen knappen Einteiler, und weint wie ein Baby. Um ihn herum rasten Hunderte aus, sie hüpfen, schreien, singen, tanzen in der alten Messehalle im Westen Rios. Der Kühlschrank bekreuzigt sich, weint weiter dicke Tränen. Und dann zieht er die Schuhe aus, vor Millionen Zuschauern vor den Fernsehern und Smartphones, irgendwo außerhalb dieses Tollhauses. Wo bin ich hier bloß, frage ich mich. Wo zum Teufel bin ich bloß?

Olympia ist toll, aber manchmal auch anstrengend. Dann will man mal abschalten, einen Wettbewerb sehen, der einem egal ist. So ging es mir Montagabend, als ich den Zeitplan durchforste: Gewichtheben, Männer bis 62 kg. Da sprang das Kopfkino an: hagere, kleine Männchen, die Gewichte in die Höhe stemmen, stets mit der Sorge, sie könnten wie ein Streichholz unter ihnen zerbrechen. Das muss ich sehen. Also auf ins Riocentro, nicht weit vom Olympiapark entfernt.

Die Ränge, etwa halb gefüllt, sind fest in den Händen von Kolumbianern, die in gelben Trikots schon 30 Minuten vor Wettkampfstart ihre Lieder anstimmen. Dazwischen Chinesen, Indonesier, Kasachen. Für mein europäisches Auge sehr exotisch. Olympia in Reinkultur. Und dann erst die Kontrahenten. Morea Baru aus Papua-Neuguinea, Ahmed Saad aus Ägypten, Farkhad Kharki aus Kasachstan, Oscar Albeiro Figueroa Mosquera aus Kolumbien. Nie gehörte Namen. Ganz nach meinem Geschmack.

Nacheinander kommen sie auf die Bühne und führen ihren Kampf gegen das Stück Eisen aus. Jeder hat seine Art, es vorher einzuschüchtern. Saad, der Ägypter, geht die Stange der Länge nach ab, dann packt er sie, die Beine leicht gebeugt, der Rücken gerade, den Po in die Höhe, wie eine Ente, nur mit Muskeln statt Federn. Er brüllt Unverständliches, während er mit den Augen die Menge fixiert, als habe sie gerade seine Mutter beleidigt. Dann schnellt das Gewicht in die Höhe.

Farkhad Kharki, der Kasache, bewegt sich die Stufen zur Bühne so ungelenk hinauf, dass es unvorstellbar scheint, dass er sein doppeltes Körpergewicht stemmen kann. Er hat ein steifes Kreuz. Um die Stange zu fassen, muss er die Knie weiter beugen als andere. Dennoch: Er schafft es. Im Reißen bedeuten seine 135 Kilo zunächst Platz drei.

Eko Yuli Irawan, Indonesien, ist am einfachsten gestrickt. Er kommt, greift das Arbeitsgerät, hebt es hoch, setzt es ab, tritt ab. Keine Zeit verschwenden. In den Presseinformationen steht: als Kind sei er Ziegenhirte gewesen. Jetzt ist er Akkordarbeiter.

Und dann kommt Señor Figueroa, der Kolumbianer. Das Modell Kühlschrank. Auch er zelebriert seine Versuche: Breitbeinig, wie Cristiano Ronaldo vor Freistößen, pudert er die Hände mit Kreide ein. Mit einem Urschrei geht er in die Hocke, lässt die Schultern kreisen. Die Sekunden, die er für seinen Versuch Zeit hat, verrinnen. Im letzten Moment öffnet sich sein Mund, rund wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Und plötzlich steht das Gewicht über seinem Kopf.

Es spielen sich Dramen ab an diesem Abend. Der chinesische Favorit Chen bricht seinen ersten Versuch ab, die Wade schmerzt, er gibt weinend auf. Muhamad Hasbi aus Indonesien kollabiert ob der immensen Lasten zwei Mal hinter der Bühne. Und Akkordarbeiter Irawan bekommt nach starkem Beginn kein Gewicht mehr in die Höhe. Sein Trainer versteht die Welt nicht mehr.

Oscar Figueroa kann auf einmal Gold holen. Seine Landsleute stehen auf ihren Sitzen. Als der Indonesier auch seinen letzten Versuch verpatzt, bricht ein Orkan aus: Der Kühlschrank ist Olympiasieger. Die Masse brüllt, die Masse jubelt. Figueroa fällt auf die Knie, weint. Und dann zieht er die Schuhe aus. Junge Mädchen lassen kreischend ihre Selfie-Sticks fallen, ein Mann hält sein Baby wie eine Trophäe in die Höhe. Heute sind alle irgendwie Olympiasieger.

Eine halbe Stunde später sitzt Figueroa in der Pressekonferenz, vor ihm ein Dutzend aufgelöster kolumbianischer Reporter, fast alle in Trikots gekleidet. Ein Fernsehreporter greift sich das Mikrofon: »Oscar«, stammelt er, »deine Tränen sind unsere Tränen, die Tränen Kolumbiens, die Tränen der Kinder, die Tränen der Frauen, die Tränen jedes einzelnen Hauses unseres Landes, Oscar, Oscar, Oscar«. »Die Frage, bitte«, raunt der Moderator genervt. Den anderen Medaillengewinnern wird keine Frage gestellt, nur Oscar. Kharkis Blick lässt vermuten, dass er dringend aufs Klo muss. Doch er muss die Oscar-Show aushalten.

Denn der Volksheld erklärt noch seine Schuhnummer: Er hebe seit 20 Jahren nur Gewichte in die Höhe. Jetzt habe er seinen Lebenstraum erfüllt. Es sei Zeit, die Karriere zu beenden. Daher die Geste.

Als ich raustrete in die brasilianische Nacht, hallt in meinen Ohren noch der Jubel der Kolumbianer. Was für ein magischer Moment. Gut, dass ich mal abschalten wollte.

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