Alles Gute!

Loblied auf ein vernachlässigtes Wesen: die positive Nachricht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist ein Reflex. Ich kann nicht anders. In Abständen müssen sie mal gesammelt werden. Die guten Nachrichten. Solche Meldung nicht bloß als einzelnes, verlorenes Wesen - nein: gemeinsam mit anderen positiven Nachrichten ausnahmsweise mal als kleines Paket, als trotzige Versammlung. In Rostock wurde in der DRK-Kindertagesstätte »Lebensbaum« der drei Millionen Euro teure, barrierefreie und integrative Ersatzneubau eröffnet. In Jerusalem wurde die Kapelle in der Grabeskirche renoviert - ein Millionenprojekt am Ende eines jahrzehntelangen Streits zwischen den Religionsgemeinschaften. 90 Millionen Kinder in den ärmsten Ländern, die noch 1990 keine Chance gehabt hätten, erreichten 2014 gesund ihr fünftes Lebensjahr. Das Land Niedersachsen hat einen weiteren Naturpark anerkannt bekommen: Hümmling im Emsland - Wälder, Moore, Flussauen, Heideflächen.

Klar, Einspruch ist sofort möglich, am besten mit Brecht. Großkaliber also. »Nicht die wirklichen Dinge sehen, sondern, wie die Dinge wirklich sind.« Sie sind schlimm, zeitungsdick schlimm. Aber ich sage mir: ein einziges Mal nicht das Große gegen das Kleine abwägen. Ein einziges Mal nicht in die Anstrengung verfallen, alles Positive sofort zu relativieren. Ein einziges Mal aus der Art schlagen und nicht an Deutschland saugen, bis das kaltländische Gift heraustropft. Das Bundesverfassungsgericht entschied: Die Polizei darf Demonstranten, die sich rechtswidrig bei einer Blockade auf Bahngleisen aufhalten, nicht in Gewahrsam nehmen, ohne einen Richter einzuschalten. Gut! In diesem Jahr wird es keinen Freitag, den 13. mehr geben. Witzig! Im Schwäbischen existieren nun insgesamt zehn literarische Radwege entlang Museen und literarischer Handlungsorte. Schön!

Es ist die schwierige Komplexität der Welt, die den Belehrungseifer schürt. Es ist die Verkapselungskraft der Zusammenhänge, die den Entlarvungssinn aufputscht. Kritik gegen die fläzigen, fiesen Verhältnisse bleibt nötig. Ja, das Elend ist groß, aber es gibt auch das Elend derer, die dauernd im Krieg gegen dieses Elend stehen. Ungünstig, wenn man denen, die ständig wachrütteln wollen, die Müdigkeit ansieht - die Müdigkeit fortwährenden Aufklärungsdienstes in Zorn und Zugeknöpftheit. Aber die das Wasser für Afrika predigen, trinken doch auch ihr Bier. Die den Finger auf jeden Posten legen, lassen doch auch mal alle fünfe gerade sein. Wir leben in einer Pulverfabrik, aber Gott hat uns das Rauchen erlaubt - Verantwortung und Leichtsinn fallen doch immer zusammen. Auch überm Kapitalismus geht verlässlich die Sonne auf; im Mittelmeer wird weiter gebadet; Kafka notierte im Tagebuch den Beginn des Weltkrieges und setzte hinzu, was ihm an diesem Tage ebenso wichtig war: 14 Uhr Schwimmschule.

In der Karibik wurde wieder eine Tierart entdeckt: ein winziger Parasit im Korallenriff, er erhielt den Namen James Cook. Wunderbartoll! Gingen in den Elendsländern der Erde 1990 nur etwas mehr als die Hälfte der Kinder zur Schule, so sind es jetzt 80 Prozent. Merkenswert! In Indien stieg die Lebenserwartung der Frauen um zehn Jahre. Erfreulich! Und man höre: Die Panzerfische, Zeitgenossen der Dinosaurier, sind doch nicht, wie bislang vermutet, ausgestorben!

Gute Nachrichten. Sie verführen zur Empathie. Sie stören den, der ein lederner Opponent ist. Der braucht die böse Nachricht wie Munition. Der braucht vielleicht sogar das soziale Knirschen als Zuspitzungsdroge, der würde selbst dann versteinert bleiben, wenn Merkel zur außerparlamentarischen Opposition wechselte. Die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« schrieb, man dürfe vor lauter Livetickern und Minutenprotokollen jeder angekündigten Katastrophe nicht vergessen, »dass es Prinzipien gibt, die sich durchgesetzt haben, und Verfahren, die zu erwünschten humanitären und ökologischen Ergebnissen führen«. Wider jene »negative Anthropologie, in der sich die Interessen digitaler Konzerne und angsthändlerischer Medien treffen«. Und die Interessen überreizter Ideologen: Nichts darf löblich, annehmbar sein in der Welt, die man sich als Feind erkor. In der man sich ständig die gewissensplagenden Erinnyen an die Seite ruft wie gefügige Haustiere.

Angesichts dessen ist es doch erwärmend: Ein Kater wird in Hannover vermisst, kommt irgendwie in Hamburg an und dort ins Tierheim - und hat jetzt ein neues Zuhause bei einer Brunsbütteler Familie. Unwichtig? Für den Kater nicht, und was Herzensgüte vollbringt, kann nie unwichtig sein. Allein in Berlin gibt es 6000 Unternehmer mit türkischer Staatsbürgerschaft. Und was es alles für ungewöhnliche Gedanken gibt! In einem Zeitungsinterview sagte der großartige Schauspieler Ulrich Matthes soeben, sein Gefühl, »als Bürger eine Verantwortung für den Zustand dieses Landes zu haben«, sei deutlich gewachsen - »ich überlege sogar, in eine Partei einzutreten«.

Natürlich: Nötig ist Warnung gegen jede Wohlfühlheuchelei. Die Menschheit raubt, vergewaltigt, mordet. Aber nie Seite, stets nur Gegenseite? Demokratie ist Pro und Kontra, dazu bedarf es nicht mehrerer Personen. Jeder ist schon selber eine Demokratie. Ich bin für und gegen mich, gegen die Weltverderber, aber doch für die Welt. Nicht ausgerechnet beim Thunfischessen den Meeresschutz diskutieren! In Wolfgang Herrndorfs »Tschick« steht: »Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.« Warum nur winken wir die Gegenwart reflexartig als Endzeit ab, wo wir doch unserem eigenen Tag lebensbejahend zuwinken. Militarismus, Rassismus, Homophobie, Antisemitismus - ist dagegen nicht vieles weltweit in fortwährender (ja, mühsamer, sehr langsamer!) Wandlung hin zum Besseren?

Im Jahre 2000 starben über 480 000 Kinder an Masern, 2012 waren es 86 000. Bravo dieser Tendenz! Forscher der Yale-Universität wollen in einer Langzeitstudie von zwölf Jahren festgestellt haben: Menschen, die lesen, leben fast zwei Jahre länger. Trivial anmutende Erklärung: Bücherlesen stimuliere unsere Gehirnzellen. (Kleine Nachfrage: Gilt das für alle Bücher?). In Indien riss es bei Überschwemmungen eine Elefantenkuh in den Brahmaputra, sie trieb hunderte Kilometer bis Bangladesh, ein Kran rettete das Tier, eine aufwändige, aber erfolgreiche Aktion. Ein vierjähriges Kind fällt bei Bozen in einen 15 Meter tiefen, mit Wasser gefüllten Schacht - eine Helferin springt selbstlos hinterher und rettet den Jungen. Und demnächst wird in Berlin, am BE, endlich wieder ein Stück von Volker Braun uraufgeführt! Nochmal Bravo!

Der heilige Antonius hatte sein Buch - das Wissen. Becketts Krapp hatte sein Tonband - die Erinnerung. Jeder von uns hat nun sein Display - die Information. Die bedeutet oft genug: Ich weiß nichts, ich weiß nur, dass ich informiert bin. Aber worüber? Diese Frage darf nie verloren gehen im Reizbeschuss durch immerwährend schlechte Kunde. Der Aphoristiker E. M. Cioran hat recht: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist.« Es bleibt der Maßstab, wie pfeilgenau die Medien zwischen der Scylla des Trivialen und der Charybdis des Abseitigen den Gesang der Sirenen empfangen. Aber es gibt eben auch andere Klänge. So freute sich Fußball-Regionalligist FC Carl Zeiss Jena, dass er kürzlich den SV 08 Rothenstein 10:1 schlug. Was freilich für die Elf aus der Kreisliga keine gute Nachricht war.

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