Die wahren Olympioniken

Die Fotografin Miriam Di Domenico zeigt jene, die im Schatten von Olympia und nicht auf einem Siegertreppchen stehen

  • Norbert Suchanek
  • Lesedauer: 4 Min.

Die italienische Fotografin Miriam Di Domenico aus Molise kam im Vorfeld der Olympischen Spiele nach Rio de Janeiro, doch nicht um die Medaillengewinner zu fotografieren. Von Anfang an wollte sie jene sichtbar machen, die im Schatten der olympischen Wettkampfstätten und nicht auf einem Treppchen und im Scheinwerferlicht stehen.

»Meine Idee war es, für jeden Tag der Woche einen wahren Champion des Alltags von Rio zu zeigen«, sagt die 30-jährige Italienerin. Es gehe ihr darum, »den Arbeiterinnen und Arbeitern von Rio de Janeiro, die sich mit Leidenschaft ihrer Arbeit widmen und die schier unüberwindlichen, täglichen Schwierigkeiten in dieser Weltmetropole mit Mut und Freude meistern und ein Symbol für die wahren Werte Olympias sind«, eine Stimme zu geben. Miriam Di Domenico: »Mein Projekt ist eine Hommage an diese wunderbaren Menschen voller Mut und Lebensfreude.«

Die Italienerin hat inzwischen sieben »Goldmedaillengewinner« des Alltags porträtiert und Plakate hergestellt, die sie an den verschiedenen Wettkampfstätten sowie in den Stadtteilen Copacabana, Lapa und Santa Teresa plakatierte. Di Domenicos Alltagshelden und -heldinnen sollen ein Panorama der Arbeitswelt in Brasilien zeigen und gleichzeitig auch je eine olympische Disziplin repräsentieren.

So ist die junge, alleinerziehende Mutter Márcia aus dem Stadtteil Glória ihre Goldmedaillengewinnerin im Gewichtheben. Domenico: »Eine der vielen starken, aber unbemerkten Frauen. Sie hebt täglich Gewichte, die dreimal so viel wiegen als sie selbst. Das beginnt schon mit ihren vier Kindern, die sie alleine zu versorgen hat.« Márcia arbeitet von morgens bis abends als Wasserträgerin für eine der von Männern dominierten »wilden« Autowäschereien in den Seitenstraßen Rios, »Lava Jato« genannt. Das Waschwasser holt sie mit einem 20-Liter-Eimer aus einem Kanal im Untergrund der Stadt. Dutzende von Eimern schleppt sie pro Tag. »Frau in einer Arbeitswelt zu sein, in der die Mehrheit Männer sind, ist ein wahrer Härtetest«, meint Miriam Di Domenico.

Ihr bester Degenfechter ist Domingos. Der aus der weißen Dünenlandschaft Lençóis Maranhenses im Nordosten Brasiliens stammende Maler arbeitet tagtäglich in der Galleria Camayoc Huasi in Santa Teresa und verkauft seine Werke an Touristen. »Sein Degen ist ein Pinsel aus Holz und sein Gegner ist die Leinwand. Er probierte viele Stile aus, bis er seinen eigenen gefunden hat«, beschreibt ihn die Italienerin, die an der Universität La Sapienza in Rom Philosophie und Filmkunst studierte. »Domingos‘ leidenschaftliches Thema ist die Favela, die Seele Rio de Janeiros: Konkrete, aber chaotische Strukturen, verbunden durch ein Wirrwarr von Strom- und Telefonkabeln.«

Gold im alltäglichen Ringen mit dem achtlos weggeworfenen Müll der Konsumgesellschaft und mit den von der Stadtregierung vernachlässigten maroden Straßen und Gehsteigen gibt es für die Straßenkehrerin Mary. Ihr Kampf mit Rio de Janeiros Abfall und dem löchrigen Asphalt beginnt jeden Morgen von Neuem, nichtsdestoweniger verrichtet sie ihre Sisyphusarbeit klaglos. Vorbeigehende Passanten begrüßt sie jeden Morgen mit einem »Bom Dia«. Mary ist auch ein Paradebeispiel für den Effekt der Plakataktion der italienischen Fotografin. »Ihr Abteilungschef bei der Straßenreinigung Rios, Comlurb, hat eines der Plakate gesehen und im ganzen Betrieb weiterverbreitet. Mary ist nun bei den Straßenkehrern Rios zu einem Star geworden«, erzählt Di Domenico.

Ihre weiteren wahren Olympiahelden sind die Theaterschauspielerin Núbia (Boxen), der Barkellner Aldo (Radfahren) und Márcia Gomes (Bogenschießen). Die Sozialkundelehrerin ist eine von Hunderten von Lehrern und Lehrerinnen öffentlicher Schulen, die im Vorfeld der Olympiade monatelang zusammen mit den Schülern und Studenten vergeblich für einen gerechteren Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und eine Reform der maroden Schulen kämpften, aber trotzdem weiter ihren Beruf mit Engagement und Leidenschaft verfolgen.

Der siebte im Bunde ist der Pizzabäcker Francesco, der in einer winzigen Pizzeria im Zentrum Rios arbeitet. Er steht für die Olympiadisziplin Rudern. Francesco, kurz Chico genannt, ist Sohn einer italienischen Immigrantenfamilie, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Rio de Janeiro einen sicheren Hafen fand. »Man braucht starke Arme und einen gleichmäßigen Schlagrhythmus, um den Ozean zu überqueren, genauso wie für einen guten Pizzateig«, begründet die Italienerin die Wahl Chicos zum Champion.

Diese sieben Olympioniken seien aber nur der Anfang. »Weitere Porträts sind in Arbeit«, sagt Miriam. Ihr Projekt werde auch nach Olympia 2016 weitergehen und schließlich mit einer Fotoausstellung enden.

Sponsoren hat die Fotografin im übrigen nicht. Alles wird aus eigener Tasche finanziert, durch ihre Arbeit als Freelance-Reporterin, womit Miriam Di Domenico selbst wie eine ihrer Heldinnen des Alltags von Rio de Janeiro erscheint.

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