Im Inzestzentrum
Martin Leidenfrost suchte das Gespräch über einen juristischen und ethischen Grenzbereich
Seit 1968 wurden beinahe alle Werte besonders der Sexualmoral umgewertet, nur das Inzestverbot schien sich zu halten. Zwar geht international eine leichte Tendenz zur Entkriminalisierung von Inzest, doch geschieht dies leise und verschämt; auch die Gender-Jakobiner der LGBTQQIP2SAA-Bewegung rühren selten an dies letzte Tabu. Aufsehen erregte nur der Deutsche Ethikrat, als er im September 2014 die Straffreiheit von Geschwisterinzest empfahl.
Ich besuchte in Berlin den soeben ausgeschiedenen Stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates. Ein hagerer Gelehrter mit streng geschnittenem Bart lud mich in seine Küche: Wolf-Michael Catenhusen, Jahrgang 1945, ehemals Bildungspolitiker der SPD, ehemals Präsidiumsmitglied des Evangelischen Kirchentages. Sobald er saß, war ihm die rätselhafte Erkrankung seines Bewegungsapparats nicht mehr anzusehen.
Catenhusen argumentierte präzise, mit protestantischem Ernst. 9 der damals 23 Mitglieder hatten gegen die Straffreiheit von Inzest gestimmt, unter ihnen auch er. »Ich halte Tabus für nicht entbehrenswert, sie haben eine gesellschaftliche Funktion.« Er wollte Inzest nicht mit der seinerzeitigen Abtreibungsdebatte vergleichen, »dieses Tabu war gesellschaftlich erledigt und konnte deswegen abgeschafft werden.« Er verteidigte den Paragraphen 173 mit der Schutzfunktion der Familie. Der Mehrheit im Ethikrat sagte er nach: »Die grundlegende Funktion der Familie wird von vielen nicht so hoch gesetzt.« Er äußerte sich auch sonst konservativ, »das Familienbild in Deutschland steht nicht mehr auf starken Fundamenten«, Adoption durch homosexuelle Paare lehnte er ab, weil da »Menschwerdung aus der Familie herausgenommen wird«. Catenhusen erzählte, dass sich der Sohn seiner zweiten Frau aus erster Ehe einst zu seiner Halbschwester hingezogen fühlte. Die Mutter habe das damals gestoppt. Heutige Eltern würden mit »Verrohung und Wurschtigkeit« reagieren.
Ganz zufällig stieß ich auf das wohl einzige »Inzestzentrum« der Welt, in der norwegischen Südregion Vestvold. Ich wusste nichts darüber, Zweck und Ausrichtung des »Incestsenteret i Vestvold« waren mir schleierhaft. Die Gründerin Mary-Ann Oshaug holte mich in ihrem Skoda vom Bahnhof ab. Die Blondine sah jünger aus, als sie war. Ihre Gesichtshaut war orange, wie aufgetragen, »das ist vom Spazierengehen mit meinem Hund«. Ab der ersten Sekunde verstörte mich ihr Blick. Auch wenn sie mich anlächelte, ging ihr Blick verloren durch mich durch.
Das Inzestzentrum ähnelte den Einfamilienhäusern drum herum, nur war alles ein wenig größer. Es war ein anheimelndes Haus aus weiß gestrichenem Holz. Freundliche ältere Damen, deren Blond naturbelassen in Weiß überging, buken Kekse oder rauchten auf der Terrasse. Im Keller ein Hobbyraum mit Boxsack zum Abreagieren. Im ersten Stock waren lauter Kinderzimmer eingerichtet, zu diesem Zeitpunkt leer. Weiche Formen, warme weiß dominierte Töne, Stofftiere überall. In Oshaugs Büro eine große Besprechungscouch, Spielzeugautos mit Teddybären am Steuer, Kinderzeichnungen an der Tür.
Die Chefin erklärte mir rasch die Hintergründe: »Ich wurde sexuell missbraucht, von 6 bis 16, zehn Jahre lang.« Ihr Vater hatte sie auch Freunden überlassen, als Einsatz beim Pokerspiel. Es folgten Heroin, Psychose, Psychiatrie. 1988 gründete sie ihre erste Anlaufstelle für Opfer. Inzest im Inzestzentrum, das bedeutete sexuellen Missbrauch durch Verwandte. Oshaug trat in Schulen auf, vor Fünfjährigen in Kindergärten, verteilte ihren Cartoon »Mats und die bösen Geheimnisse«.
Ich fragte sie, ob Inzest aus Liebe für sie existierte. Sie zögerte, ihr Haus hatte in all den Jahren Tausende Kinder aufgenommen und ihr 24-Stunden-Callcenter hatte 23 000 Anrufe entgegengenommen: »Ich kannte nur ein paar Brüder und Schwestern, die ineinander verliebt waren.« - »Finden Sie da Strafbarkeit richtig? Was haben Sie getan?« - »Nichts, ich ließ diese Paare in Frieden. Ich kann mich aber nur an drei Fälle erinnern.« Sie fügte hinzu, dass Missbrauch durch Mütter zunehme und zwischen Geschwistern im Kleinkindalter.
Als sie mich zurückfuhr, sah ich ihr Wohnhaus. Es war aus weiß gestrichenem Holz, die mit Bastelzeug gefüllte Garage stand beleuchtet offen. Ein Hort der Behaglichkeit, doch bedrückte nichts so sehr wie dieses Behagen. Der deutsche Gesetzgeber ist der Empfehlung des Deutschen Ethikrates bisher nicht gefolgt.
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