Die dunklen Flecken im Werk

Die Ausstellung »Luther, Bach und die Juden« in Eisenach

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Man kann sich der Strahlkraft und Faszination der Matthäus- und der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach schwerlich entziehen. Doch kann man, besonders angesichts der jüngeren deutschen Geschichte, ausblenden, dass diese Monumente der Kirchenmusik die protestantische Lehre von der Verdammnis der Juden transportieren? »Luther, Bach und die Juden« lautet der Titel einer Ausstellung, die noch bis zum 6. November im Bachhaus Eisenach gezeigt wird. Es könnte angesichts des bevorstehenden Lutherjahrs kein besseres Thema geben. Und auch keinen besseren Ort, denn Eisenach ist nicht nur die Geburtsstadt des größten deutschen Barockkomponisten. Der für vogelfrei erklärte Reformator Martin Luther verbrachte ab Mai 1521 rund zehn Monate in der Wartburg in einer Art Schutzhaft und nutzte diese Zeit für seine Bibelübersetzung.

Jörg Hansen, Direktor des Bachhauses und Kurator der Ausstellung, weist den gelegentlich erhobenen Vorwurf, er wolle »Bach den Prozess machen«, kategorisch zurück. Vielmehr solle die Verbindung zwischen dem »unmenschlichen Antijudaismus« Luthers und der tiefen Verwurzelung Bachs im protestantischen Glauben ebenso dokumentiert werden wie die Rezeption seiner großen kirchenmusikalischen Werke - besonders der Matthäus-Passion - nach deren Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert.

Bach war zeitlebens überzeugter Lutheraner, wovon auch seine umfangreiche Privatbibliothek zeugt. Handschriftliche Notizen in einigen Bibelausgaben und anderen theologischen Werken seiner Zeit belegen eindeutig, dass er Luthers These von der Verdammnis der Juden und deren notwendiger Vertreibung vorbehaltlos teilte. Die durch zeitgenössische Texte ergänzten Bibeltexte der Evangelisten zur Gefangennahme, Peinigung und Kreuzigung von Jesus Christus waren für Bach eine optimale Vorlage für zwei große, oratorische Werke mit nahezu agitatorischem Charakter. Dabei setzte er sein Wissen über die emotionale, feinstoffliche Wirkung bestimmter Klänge und Formen und sein weit über die musikalischen Normen seiner Zeit hinausgehendes Harmonieverständnis in den Passionen mit nahezu perfider Konsequenz ein. Der Evangelist übernimmt den erzählenden Part, in sonorer Stimmlage mit klarer, einprägsamer Stimmführung. Heroische Choräle bilden mit mächtigen Dur-Kadenzen die unerschütterliche Glaubensstärke der Christen ab. Die mitunter fast zerbrechlich anmutenden Arien dienen der Illustration des Zweifels und des Ringens um den wahren Glauben und münden teilweise in die Erlösung der Bekehrung, was entsprechend »freudig« instrumentiert wird. Auf der anderen Seite werden Angst und Beklemmung ausgelöst, durch die schrillen, teilweise dissonanten Judenchöre, die die Kreuzigung von Jesus fordern und in der Matthäus-Passion ganze 70 Mal den Satz schreien: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Es ist genau diese »Selbstverfluchung« der »verstockten« Juden, die zum Kerngedanken antisemitischer Verfolgung wurde.

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurde über den Antijudaismus in Bachs Passionen intensiv diskutiert. Und auch heute stellt sich angesichts des bevorstehenden Lutherjahrs die Frage, wie man mit diesen dunklen Flecken im Werk des größten deutschen Barockkomponisten umgeht, der auch als »5. Evangelist« verehrt wird. So fungierten die Passionen rund 200 Jahre nach ihrer Entstehung im nationalsozialistischen Musikbetrieb als Hymnen für die »Entjudung der deutschen Kultur«. Was tun? Packt man sie in den Giftschrank (wie in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in Israel)? Verbannt man die Passionen wenigstens aus der liturgischen Aufführungspraxis (Karfreitage in Kirchen) und führt sie nur noch konzertant auf? - Ein in Deutschland zeitweilig diskutierter Ansatz. Oder sollte man gar in die Werke selbst eingreifen, sei es durch »Entemotionalisierung« der Judenchöre oder durch neue Textfassungen einiger Arien mit Bezügen auf die frühe jüdische Geschichte? So jedenfalls brachte die interreligiöse philosophische Plattform ha’atelier die Passionen einige Male zur Aufführung.

Doch für einfache Muster eignet sich die Bach-Rezeption nicht. Denn die Wiederentdeckung der nach Bachs Tod im Jahr 1750 weitgehend in Vergessenheit geratenen Passionen und anderer Werke von Bach wurde maßgeblich von jüdischen Familien geprägt. Moses Mendelssohn, Vordenker eines integrativen, aufgeklärten Judentums in Deutschland, verstand Bachs Musik als vollkommene Synthese von Sinnlichkeit und Rationalität. Seinem - aufgrund zunehmender Anfeindungen 1816 christlich getauften - Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy war es schließlich vorbehalten, die Matthäus-Passion erstmals seit Bachs Tod 1829 in der Berliner Singakademie wieder aufzuführen.

Natürlich bedeutet diese Art »jüdischer Absolution« für Bachs Passionen nicht, dass sich die Auseinandersetzung um den auch von ihm zelebrierten eliminatorischen Antijudaismus der protestantischen Lehre Martin Luthers erübrigt.

Auch dem dient die gute, fundierte multimediale Ausstellung im Bachhaus Eisenach. Und genau so sollte man die beiden großen Passionen von Johann Sebastian Bach heute hören: mit Wissen über den historischen Kontext, als Zeugnisse der überwältigenden kompositorischen Meisterschaft eines visionären Komponisten, der in dem antijudaischen Zeitgeist seiner Epoche verfangen war.

Die Ausstellung »Luther, Bach und die Juden« wird noch bis zum 6. November im Bachhaus Eisenach gezeigt. Infos unter www.bachhaus.de

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