Das Märchen vom bösen Armen

Die Soziologin Britta Steinwachs lüftet den ideologischen Schleier des Privatfernsehens

  • Sebastian Friedrich
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer heute den Fernseher einschaltet, kann ziemlich sicher sein, dass es in den Sendungen des Nachmittagsprogramms auch um die sogenannte Unterschicht geht. Verhandelt wird das Leben der Arbeiterklasse heute vor allem in sogenannten Scripted-Reality-Formaten. Das sind kostengünstig produzierte Sendungen, die zwar aussehen wie eine Dokumentation, aber komplett fiktional sind.

Welches Wissen diese Serien aufgreifen und reproduzieren, fragt sich die Soziologin Britta Steinwachs in ihrem Buch »Zwischen Pommesbude und Muskelbank. Die mediale Inszenierung der Unterschicht«. Sie hat sich mit »Familien im Brennpunkt« (RTL) eine der geskripteten Fernsehsendungen genau angeschaut und analysiert zwei Folgen vor dem Hintergrund der seit mehr als zehn Jahre laufenden Diskussion um eine »Neue Unterschicht«.

Die Debatte ist geprägt durch Stereotype von Menschen unterer Klassenlagen, die allesamt den Erwerbslosen, Abgehängten und Ausgeschlossenen individuelles Versagen unterstellen. Wer die Figur der »Neuen Unterschicht« kennt, weiß: Die Schuld an ihrer Situation wird den materiell armen Menschen selbst zugeschoben; würden sie sich anpassen, so die Logik, sie würden es auch »zu etwas bringen«.

In ihrem aufschlussreichen Buch führt Steinwachs präzise durch das Nachmittagsprogramm und legt die versteckten Grundannahmen offen. Wie es etwa mit der notwendigen Anpassung klappt, vermittelt eine der analysierten Folgen. Der 19-jährige Antiheld Spencer Rotkowski will keinen Schulabschluss machen, erlebt dadurch immer wieder berufliche Misserfolge, Freundinnen trennen sich von dem »Loser«, und er kommt wegen Drogengeschichten mit der Justiz in Kontakt.

Zum Glück, so die erzählerische Aussage der Episode, denn durch die staatliche Intervention findet er wieder den »richtigen« Weg und will seinen Abschluss nachholen. Nicht die ungleichen Bildungschancen werden in der Sendung, so Steinwachs, damit als Ursache für potenzielle Armut ausgemacht, sondern es sei vielmehr das soziale Umfeld, das Spencer im Wege stehe: die »Unterschichtskultur«.

Steinwachs arbeitet den ideologischen Gehalt gut lesbar heraus und ergänzt damit frühere Studien zum populären Unterschichtsdiskurs, die die Populärkultur bislang vernachlässigt haben. Die »Unterschicht« spricht hier Dialekt, ist unhöflich, hat Probleme mit der Grammatik und rastet schnell aus. Die angeblich unkultivierten, ungebildeten und über mangelnde Impulskontrolle verfügenden »Unterschicht« sind das Spiegelbild zur knigge-bewussten, gebildeten und wohl überlegt handelnden Mittelschicht.

Steinwachs geht in zweierlei Hinsicht sogar über vorhandene Analysen hinaus. Bisher standen vor allem an Printmedien im Fokus, Steinwachs überträgt überzeugend das diskursanalytische Instrumentarium auf Fernsehsendungen. Mehr noch: Sie analysiert auch die Darstellung des »Unterschichtskörpers«. Denn auch der sei ein »Zeichenträger«, ein umkämpfter Ort der ideologischen Auseinandersetzung.

Die weiblichen Figuren fordern in der Sendung etwa traditionelle Geschlechterrollen: Der Mann soll Geld verdienen, die Frau muss sich um den Haushalt kümmern. Männer der Arbeiterklasse orientieren sich am Bild des muskulösen, von Körperarbeit gestählten, latent aggressiven Machomann. Trotz Muskelbank leben die unteren Klassen aber nicht gesundheitsbewusst. Damit machen sich die dargestellten Unterschichts-Charaktere schuldig, da sie nicht den Idealen der neoliberalen Aktivierungsgesellschaft folgen, »welche mittels präventivem Verhalten ihre Kosten für die Allgemeinheit im Sinne eines verminderten Krankheitsrisikos möglichst geringhalten«, so Steinwachs.

Am Ende besteht kein Zweifel mehr: Scripted-Reality-Formate machen sich über die unteren Klassen lustig. Oberflächlich betrachtet, behandeln solche Formate soziale Probleme, bei genauerem Hinsehen sind es nicht die Probleme der Arbeiterklasse, die geskriptete Pseudodokumentationsformate darstellen, vielmehr erklären Sendungen wie »Familien im Brennpunkt« die »Unterschicht« selbst zum Problem.

Britta Steinwachs: Zwischen Pommesbude und Muskelbank. Die mediale Inszenierung der »Unterschicht«. Edition Assemblage, 157 S., br., 16,80 €.

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