Willkommen in der Welt der Drohungen
Das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung gilt längst nicht mehr. Darin liegt nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Von Christian Baron
Was war das nur für ein Hype. Die medial unbedarfte Schülerin aus Köln war selbst überrascht von den Reaktionen auf ihren im Januar 2015 abgesetzten Tweet. Zumal das, was sie da frühmorgens in den digitalen Äther jagte, seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire pubertärer Schulhofnörgeleien gehört: »Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ›ne Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Erwartungsgemäß erreichte die angehende Abiturientin eine Flut an positiven Rückmeldungen durch Gleichaltrige. Nur eines war diesmal anders als bei den zuvor bereits zigfach geäußerten Meinungen ähnlichen Inhalts: Das Bildungsbürgertum zeigte erstaunlich viel Verständnis.
Denn tatsächlich, so schrieben einige Feuilletonisten und so monierten viele aus der Politik wie etwa Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), komme die Vermittlung von praktischem Alltagswissen in der Schule zu kurz. Trotz aller Beteuerungen, Bildung sei ein Wert an sich und dürfe niemals nur Nützlichkeitserwägungen unterliegen, verließen zu viele Jugendliche die Schule, ohne auf »das Leben« vorbereitet zu sein. Wer die wichtigste Lehranstalt von solcherlei Servicecentergedanken zur Abrichtung von brav funktionierenden Wirtschaftssubjekten frei halten will, argumentiert in der seither kaum abebbenden Debatte meist gegen die Ökonomisierung der Bildung an.
Der Tweet des steuererklärungsfreudigen Teenagers hat aber auch eine tiefer liegende Wahrheit offenbart: Das Bürgertum beginnt zu begreifen, dass Bildung nicht mehr automatisch zu sozialem Aufstieg und noch weniger zu lebenslanger Sicherheit führt. Über die soziale Ungleichheit im Bildungssystem ist eigentlich schon alles bekannt. Sie wird gemeinhin durch diese Gegenüberstellung auf den Punkt gebracht: 77 von 100 Akademikerkindern schreiben sich in Deutschland an einer Hochschule ein, aus Familien ohne akademische Tradition tun das nur 23 von 100. Wer es dagegen an die Universität schafft, so eine sich noch immer hartnäckig haltende Überzeugung, müsse sich normalerweise nicht vor Prekarität fürchten. Es mag selten sein, dass Arbeiterkinder zu Akademikern werden; wenn sie es aber packen, dann sei ihnen fast immer ein sicheres Leben vergönnt.
Undine Zimmer hat da ganz andere Erkenntnisse gesammelt. Die 36-jährige Journalistin ist in einem Sozialhilfehaushalt aufgewachsen und beschrieb 2013 ihre von vielen geteilten »Aufstiegserfahrungen« in dem autobiografischen Sachbuch »Nicht von schlechten Eltern«: »Und so sitzt man am Ende der ›besten Zeit seines Lebens‹ auf einem Berg Schulden. Inzwischen habe ich schon zum vierten Mal den Stundungsantrag für mein Abschlussdarlehen bei der KfW abgeschickt. Jedes Jahr kommen Zinsen hinzu. Während des Jahres versuche ich, nicht an die Gesamtsumme meiner Schulden zu denken, die ich dem Staat für meinen Bildungsaufstieg noch zurückzahlen muss.«
Es ist eine paradoxe Situation: Die Quote der Studienberechtigten eines Jahrgangs stand im Jahr 2012 bei sagenhaft sozialdemokratisch anmutenden 59,6 Prozent, die Zahl der Studenten war mit 2,8 Millionen in absoluten Zahlen so hoch wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Es gelangen also tatsächlich immer mehr Schüler eines Jahrgangs zur Hochschulzugangsberechtigung. Trotzdem verschärft sich die soziale Ungleichheit eher noch, als dass sie abnimmt.
Dafür gibt es einen handfesten Grund: In Zeiten verschärfter Bildungskonkurrenz werden private Ressourcen immer wichtiger. Während sich in Deutschland stetig gesellschaftliche Liberalisierungen etablieren, entwickelte sich hier unter der Bundesregierung von SPD und Grünen ab 1998 der größte Niedriglohnsektor in ganz Europa - und der trifft auch viele Akademiker. Als Folge nahm der Kampf um die wenigen noch gut bezahlten Arbeitsplätze im geistes- und sozialwissenschaftlich geprägten Sektor weiter zu. Die soziale Herkunft wird darin zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil für Leute aus akademisch gebildeten Elternhäusern, denen diese Gesellschaft das Versprechen vom kulturell und ökonomisch spürbaren Aufstieg durch Bildung noch einlöste.
Für Menschen aus einem nicht-akademischen und materiell armen Elternhaus ist der Erfolg im immer mehr zum Markt umgestalteten Bildungssystem so schwer erreichbar wie für einen Hundertmeterläufer, der mit zwanzig Meter Rückstand und einer Eisenkugel am Bein ins Rennen starten muss. Deutschland ist von einer Gesellschaft der Versprechen zu einer Gesellschaft der Drohungen geworden. Es gilt die Devise: Sei cool, entspannt und selbstbewusst, dann regelt sich schon alles irgendwie. Nutze aber deinen Geburtsvorteil und fahre stets die Ellbogen aus gegen die Anderen. Und: Beklage dich niemals! Denn wenn du dich nicht durchsetzt, dann wirst auch du schnell zum Hartz-IV-Empfänger!
Damit diese Drohungen nicht als Drohungen erscheinen, hat die Wirtschaftswelt einen ideologischen Schleier entdeckt: Freiwilligkeit. Mittlerweile ist es üblich, nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums sich jahrelang in schlecht oder gar nicht bezahlten Praktika zu verdingen, nur um irgendwann vielleicht einen der begehrten, wenn auch befristeten und miserabel entlohnten Jobs im Kreativsektor zu ergattern.
Alle in diesem Spiel gewöhnen sich daran, keine Ansprüche mehr anzumelden. Selbst Gewerkschaften bezahlen ihre Praktikanten kaum noch. Die Bewerber haben die neue Normalität akzeptiert. Freiwilligkeit macht sich gut im Lebenslauf und wird damit zum Zwang. Wer nicht bereits während des Studiums mehrere unvergütete Praktika absolviert, für den stehen die Chancen schlecht, einen guten Job zu finden. Da überlegt sich das in den Semesterferien kellnern müssende Arbeiterkind beim Abkassieren von im Lokal den neuen Praktikumsplatz feiernden Bildungsbürgerkindern genau, ob es noch einmal in den Hörsaal zurückkehrt oder doch besser gleich eine Berufsausbildung beginnt.
Am Ende bleiben fast nur noch jene übrig, die sich von den Eltern finanzieren lassen können. Doch selbst ihnen dämmert nach dem späten Überwinden des Larvenzustandes, dass sie aus eigener Kraft kaum mehr den Wohlstand ihrer Eltern erreichen können. Selbstverwirklichung ist in Zeiten allseitiger Prekarität fast nur noch zum Preis ökonomischer Unsicherheit zu haben. Materielle Armut ist nicht mehr länger das Alleinstellungsmerkmal formal weniger gebildeter Menschen. Wenige kämen da auf die Idee, dass darin nicht nur ein beklagenswerter Zustand, sondern auch eine Chance liegen kann. Ganz anders der US-amerikanische Soziologe Guy Standing: Er sieht im »Prekariat« eine »neue explosive Klasse«, wie der Titel seines 2015 auf Deutsch erschienen Buches lautet. In den sich nach oben zunehmend schließenden und sich nach unten weiter beschleunigenden sozialen Mobilitätsprozessen leuchtet für ihn ein Potenzial auf. Demnach könnten sich wieder mehr Menschen kollektiv organisieren, weil sich die Interessen der zuvor getrennt agierenden Lohnabhängigen vereinen. Er ruft die Prekären auf, »zu einer eigenen Klasse zu werden«.
Dafür aber dürften sich die prekären Akademiker, so Standing, nicht mehr gegen die besitzlosen Arbeiter aufhetzen lassen, sondern müssten gemeinsam mit ihnen für ein neues Verständnis von Arbeit eintreten. Hochgebildete könnten demnach durch ihre kulturellen Ressourcen am ehesten dafür sorgen, dass Erwerbsarbeit und Existenzsicherung künftig unabhängig voneinander funktionieren. Standing schwebt also eine Art bedingungsloses Grundeinkommen vor, mit dem sich auch der Bildungswettbewerb abschaffen ließe. Dieser revolutionäre Optimismus mag unrealistisch, ja naiv klingen; der Grundgedanke aber trifft ins Schwarze: Plötzlich werden sich Intellektuelle bislang für die Nicht-Akademiker reservierter Alltagsnöte gewahr. Das mag auch der Grund sein, warum der harmlose Tweet einer 17-Jährigen ein solches Echo auslösen konnte.
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