Das andere »Wir schaffen das«
Ein Jahr nach den dramatischen Szenen auf dem Bahnhof Budapest-Keleti hat sich die Situation für Geflüchtete in Ungarn nicht verbessert
Der Bahnhof Budapest-Keleti an einem Nachmittag im September: Menschenmassen strömen ein und aus, Züge warten auf ihre Fahrgäste. Draußen sorgen Polizei und Krankenwagen mit ihrem Sirenengeheul für hektisches Großstadtflair. Alles geht seinen normalen, alltäglichen Gang. Es fällt schwer, sich vor augen zu führen, wie genau hier vor einem Jahr nichts mehr normal war – als tausende Asylsuchende den Bahnhofsvorplatz bevölkerten und auf ihre Weiterreise nach Deutschland warteten.
Was war passiert? Durch die Verschärfung des Syrien-Konflikts suchten immer mehr Menschen Zuflucht in Europa. Sie kamen verstärkt über die Balkanroute – über Griechenland, Mazedonien und Serbien – nach Ungarn, um von dort aus weiterzureisen in Richtung Österreich und Deutschland. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban ließ die Fliehenden aber zunächst nicht passieren, was zu dramatischen Szenen am Bahnhof Keleti führte: Die Polizei versperrte den Zugang zum Bahnhofsgebäude, die Menschen mussten tagelang im Freien ausharren.
Der Bahnhofsvorplatz war damals voller Kamerateams. Journalisten leisteten Erste Hilfe und mussten sich Kritik gefallen lassen, sie seien nicht distanziert genug. Und heute? Ungarn ist wieder von der Medienlandkarte verschwunden, andere Themen diktieren den Alltag der Redaktionen. Geblieben ist nur die ungarische Flüchtlingspolitik, die nach wie vor auf Sicherung der Außengrenzen zu den südlichen Nachbarstaaten Serbien und Kroatien – sprich: auf die Abwehr aller Flüchtlinge – ausgerichtet ist. Und eine ungarische Gesellschaft, die zu einem großen Teil hinter Orban und seiner Regierung steht, wie die Wahl- und Umfrageergebnisse zeigen.
Dass sich die Situation für Geflüchtete in Ungarn seit jenen Tagen nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert hat, weiß auch Aron Demeter von Amnesty International Budapest zu berichten. »Es hat sich nicht so viel verändert. Nur die Zahl der Geflüchteten, die versuchen, nach Ungarn zu gelangen, ist deutlich kleiner geworden«, sagt er – und weiß selbst, dass Ungarn eine Menge dazu beigetragen hat, die Probleme stärker nach außen zu verlagern: »Der Zaun, der vor einem Jahr an der Grenze zu Serbien und Kroatien errichtet wurde, ist ja immer noch da.« Es ist Orbans Version von der Floskel »Wir schaffen das«.
Geflüchtete campieren an der ungarisch-serbischen Grenze
Besonders angespannt sei laut Demeter die Situation an der Grenze zu Serbien: »Dort gibt es zwei Transitzonen. Wenn Menschen an die Grenze kommen, müssen sie sich in eine Liste eintragen. Allerdings können nur 15 Menschen am Tag die Transitzone passieren.« Heißt: Nach wie vor müssen die Fliehenden vor der Grenze campieren. Zur Zeit sind es etwa 500, die auf ihre Weiterreise warten. Sie müssen durchschnittlich einen ganzen Monat ausharren – was nicht heißt, dass sie dann auch tatsächlich nach Ungarn einreisen dürfen: »Familien mit Kindern haben es etwas leichter, aber für junge Männer aus Syrien ist es nahezu unmöglich.«
Nach jüngsten Berichten sollen die Grenzen sogar noch verstärkt werden. Ungarn benötige ein »robusteres Verteidigungssystem«, sagte Orban dem ungarischen Rundfunk: »Die Grenze kann nicht mit Blumen und Kuscheltieren verteidigt werden, sondern mit Polizisten, Soldaten und Waffen.« Offenbar hat der Regierungschef Angst, dass der vorrangig von Bundeskanzlerin Angela Merkel initiierte Deal zwischen der EU und der Türkei, der Flüchtlinge von Europa fernhalten soll, in die Brüche geht und die Balkanroute somit wieder geöffnet wird. Mit den drei anderen Staaten der Visegrad-Gruppe – Polen, Tschechien und der Slowakei – fordert Ungarn zudem die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee.
Auch für Flüchtlinge, die bereits im Land leben, ist die Situation nicht einfach. »Das Problem ist, dass sie selbst eine Wohnung und einen Job finden müssen. Wenn sie einen legalen Status als Flüchtling bekommen, dürfen sie nur 30 Tage in einer Unterkunft wohnen. Dann sind sie auf sich gestellt, bekommen keinerlei Unterstützung vom Staat«, sagt Aron Demeter und fügt an: »Es ist jedoch verdammt schwer, eine Wohnung zu finden, weil viele Vermieter keinen Flüchtling bei sich wohnen lassen wollen.«
Dass die Bevölkerung wie Orban denkt, ist jedoch kein Wunder. Seit seinem Amtsantritt tut der Regierungschef alles dafür, um seine Botschaft leicht und schnell unter die Leute zu bringen – und hebelt dafür die Pressefreiheit aus. Die großen Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen gelten als Sprachrohr der Regierung. Eine kritische Öffentlichkeit fehlt – was auch Amnesty International schon zu spüren bekommen hat: »Wir haben es schwer, Kontakte zu den Medien aufzubauen, waren schon seit Jahren nicht mehr im ungarischen Fernsehen«, so Aron Demeter. Stattdessen würden Gerüchte gestreut. »Die Regierung glaubt, wir seien ausländische Agenten und wollen die Bevölkerung manipulieren.«
Laut Umfragen sehen Ungarn Flüchtlinge als Gefahr für das Land
Zurück am Bahnhof zeigen sich die faulen Früchte, die Orbans braune Samenkörner hervorgebracht haben. »Nun ist es besser«, sagt ein Mann im blauen Hemd mit Krawatte, Typ bürgerliche Mitte, »diese Menschen haben einfach nicht zu uns gepasst.« Und dann ergänzt er in seinem bruchstückhaften Englisch noch einen Satz, der vielsagend ist für die ungarischen Verhältnisse, den man aber auch aus Deutschland kennt: »We are no nazis, but …« Womit er sich prächtig einfügt in das Bild, das die ungarische Gesellschaft derzeit abgibt: Laut einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr glauben 66 Prozent der Ungarn, Flüchtlinge stellten eine Gefahr für das Land dar. Nur 19 Prozent sehen es als ihre Pflicht an, Flüchtlinge aufzunehmen.
Dazu passt auch die Aussage einer Polizistin: »Mein Kollege war damals im Dienst, als die Flüchtlinge versuchten, in den Bahnhof zu gelangen. Es war so schrecklich. Die Flüchtlinge waren so aggressiv. Wir haben nur unser Bestes getan«, sagt sie, wobei sie wenig später klarstellt, dass »eigentlich die Regierung schuld ist. Die Flüchtlingspolitik ist schlecht. Und wir Polizisten müssen das umsetzen, was die Regierung uns sagt.«
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