Wer das tatsächlich schafft
»Willkommenskultur«: Einen großen Teil der Arbeit machen Ehrenamtliche. Wer hilft da eigentlich? Eine demoskopische Spurensuche
Über das Verhältnis zwischen Politik und Ehrenamt, über Selbstbespiegelung und Realität, über jene, die reden und andere, die handeln: darüber lässt sich dieser Tage einiges lernen. Eifrig wird auf die zur »Flüchtlingskrise« erklärte Zunahme der Asylbewerberzahlen zurückgeblickt: auf das Versagen der EU, die bestürzende Zahl der Opfer der Abschottung, das Erstarken rechter Parteien. Und ein Jahr nach Angela Merkels Satz »Wir schaffen das« wird sogar über dessen Urheber gestritten - der SPD-Chef soll es gewesen sein, eben jener Sigmar Gabriel, der zurzeit mit der Binsenweisheit zu punkten versucht, es reiche nicht, »Wir schaffen das« zu sagen.
Die aber, die es wirklich geschafft haben, spielen im allgemeinen Gerede kaum eine Rolle. Zwar wird nun auch daran erinnert, wie etwa Ehrenamtliche am Münchner Hauptbahnhof in kürzester Zeit eine Infrastruktur der freiwilligen und teils selbstorganisierten Hilfe auf die Beine stellten. Doch das praktizierte Willkommen war mehr als dieser Noteinsatz. Bundesweit schlossen Freiwillige Lücken, die nicht zuletzt jahrelange neoliberale Kürzungspolitik in die öffentliche Ressourcen geschlagen hatten. Die vermeintliche Weltmetropole Berlin war teils nicht einmal in der Lage, Schutzsuchende vor der Winterkälte zu bewahren.
Wer aber sind diese Ehrenamtlichen? Anfangs gab es nur Beschreibungen, doch zeichnen nun erste Studien ein genaueres Bild. So hat das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung ermittelt, dass sich vor allem Frauen engagieren: insgesamt drei Viertel, bei unter 50-Jährigen gar mehr als 80 Prozent. Die Experten der Humboldt-Universität hatten bereits Ende 2014 Freiwillige befragt und dies ein Jahr später wiederholt. So zeigen sich auch Veränderungen in der Helferszene.
»Während Ende 2014 noch die unter 30-Jährigen dominierten, sind nun viele dazugekommen, die 40 Jahre und älter sind«, heißt es in der Studie. Zugleich hat der Anteil der Studierenden zwischen Ende 2014 und Ende 2015 von fast einem Viertel auf elf Prozent abgenommen, jener der Berufstätigen stieg auf knapp 50 Prozent, den Durchschnittswert in der Bevölkerung. Erwerbslose und Auszubildende konnte die Studie kaum zählen, allerdings ist diese laut den Experten auch nicht repräsentativ. Gestiegen sei die Zahl derer, die religiöse Antriebe nennen.
Insgesamt sprechen die Forscher aber von einer »Normalisierung« der Helferszene. Die ehrenamtliche Arbeit habe sich »in die Mitte der Gesellschaft« bewegt. Auch in der regionalen Verteilung: Waren die oft spontanen Gruppen zunächst eher ein Großstadtphänomen, ist inzwischen vor allem auf dem Land und in Kleinstädten der Anteil der Ehrenamtlichen stark angestiegen. Der »Trend von einer eher unterdurchschnittlichen ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit im ländlichen Raum und einem überproportionalen Engagement in Großstädten hat sich nun umgekehrt«, schreiben die Forscher. Und: Auch die Zahl der Freiwilligen, die zehn und mehr Stunden pro Woche im Einsatz sind, ist gewachsen - auf ein Viertel der Engagierten.
Ganz neu ist das Grundgerüst der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit dabei nicht. Eine andere Studie des Berliner Instituts, diesmal von der Bertelsmann-Stiftung gefördert, hebt hervor, dass sich seit 2011 bundesweit »verstärkt (…) Strukturen herausgebildet« haben, die eine »Kultur des Ankommens etablieren« und bei der Alltagsbewältigung helfen: »Jede zehnte Person in Deutschland engagiert sich für Geflüchtete«, heißt es in der Studie, dies sei eine »neue Dimension des bürgerschaftlichen Engagements«. Die praktische Willkommenskultur signalisiere dergestalt »einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel«, als dass Integration nicht mehr nur als eine Forderung gegenüber Migranten verstanden werde, sondern als Aufgabe für alle - es zeigt sich hier nicht weniger als eine praktische Abkehr von einem repressiven Integrationsbegriff.
Diese Studien korrigieren auch schlagzeilenträchtige Umfrageergebnisse, in denen mal von sinkender Hilfsbereitschaft die Rede ist, bis eine andere Umfrage das Gegenteil behauptet. Mitunter missverstehen Berichte vom Ende der Willkommenskultur gemäß gewisser medial-politischer Konjunkturen sogar das Material, auf das sie sich beziehen. So, wie von angeblichen Kapazitätsgrenzen die Rede war, wurde auch gern mal eine Grenze der Hilfsbereitschaft an die Wand gemalt.
Doch es ist komplizierter. Warum entscheiden sich Menschen, Geflüchteten nicht zu helfen? Ein Teil hat vor einigen Monaten in einer Umfrage angegeben, gar nicht zu wissen, was und wie sie beitragen könnten. Andere verweisen nicht ganz ohne Grund darauf, dass dies auch und zuvörderst eine staatliche Aufgabe sein sollte. Zudem muss zwischen jenen unterschieden werden, die sich längerfristig in dann auch wachsenden Strukturen engagieren - und jenen, die vor allem mit Sachspenden beigetragen haben. Dies ist in den bisherigen Umfragen der größte Teil derer, die angaben, Geflüchteten schon einmal geholfen zu haben. Am kleinsten ist die Zahl derer, die Asylsuchende aufgenommen haben.
Kaum Unterschiede sieht das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung hinsichtlich der Motivation von Ehrenamtlichen. Es gebe einen »verbreiteten Konsens«, mit dem Engagement »die Gesellschaft zumindest im Kleinen« zu verändern und ein »Zeichen gegen Rassismus setzen« zu wollen. So äußern sich fast alle Befragten.
Jene, die die Basis der Willkommenskultur bilden, dürften zu jenem »Lager der Solidarität« zählen, das sich quer zu Parteineigungen durch die Gesellschaft zieht. Hier lassen sich jene »demokratischen Milieus« beobachten, die die Studie »Enthemmte Mitte« als Widerlager zu den oft aggressiv nach rechts tendierenden und sich auch radikalisierenden Gruppen »besorgter Bürger« sieht. Sozusagen: die sorgenden Bürger.
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