Das Mittelmeer hält sich nicht an künstliche Zahlen
Tag 1: Ankunft und Abfahrt
Am Hafen von Catania ist die »Aquarius« leichter zu entdecken als gedacht. Gegenüber von den Fähren, direkt neben einem deutschen Marine-Kriegsschiff, ragt das 77-Meter lange ehemalige Fischereischutzboot gelassen aus dem Wasser heraus. Der orange-gestrichene Rumpf wirkt in der anbrechenden Dunkelheit wie eine Warnweste. Lachende Leute kommen mir auf dem Pier zwischen kleinen Yachten entgegen. Eine milde Sommerbrise weckt für einen kurzen Moment Erinnerungen an vergangene Sommerurlaube. Am Boot angekommen werde ich freundlich empfangen.
Eine fünf Quadratmeter große Kabine mit Doppelstock-Bett wird mein neues Domizil, ein Journalistenkollege des französischen Privatfernsehens mein Zimmernachbar. Der Boden schwankt gemächlich vor sich hin, angepasst an die Atmung der Wellen. Das Boot scheint auf den ersten Blick fast leer zu sein, nur eine Handvoll Leute sind an Bord, die ihre Ausrüstung auspacken oder etwas im Speiseraum zu sich nehmen. Schnell wird klar warum: Es ist der letzte Abend vor der Abfahrt. Die letzte Gelegenheit für Zerstreuung, zum Ausgehen, um Bekanntschaften in der Stadt zu pflegen oder Alkohol zu trinken. Bei allem was kommen mag, eine letzte Gelegenheit für Normalität und improvisierten Alltag. In der nahegelegenen Hafenkneipe lernt das Team sich kennen. Neue und Alte treffen aufeinander, tauschen Anekdoten, Details über ihre Funktion auf dem Schiff und Biografiefetzen aus.
Auf der »Aquarius« gibt es vier Arten von Mitreisenden: Die »Search-and-Rescue« (SAR)-Teams haben die Aufgabe, die Flüchtlinge in kleinen Booten anzusteuern und an Bord zu bringen. Sie setzten sich zum Großteil aus Freiwilligen zusammen, darunter vor allem junge Studenten. Wenn die Schutzsuchenden auf dem Schiff sind, übernehmen die Mediziner und Pfleger von »Ärzte ohne Grenzen«. Viele der souverän auftretenden Experten verfügen bereits über Erfahrung in Krisengebieten. Ein kleine Klinik sorgt für das Nötigste. Die nautische Besatzung trägt wiederum die Verantwortung für das reibungslose Funktionieren des Schiffsalltags. Darunter fällt die Zuständigkeit für Maschinen, Steuerung, Sicherheit und Essen.
Zuletzt gibt noch die Journalisten. Mit täglichen Unterhaltskosten von 11.000 Euro ist die »Aquarius« stark von Spendengeldern abhängig. Mediale Berichterstattung hält das öffentliche Interesse wach. Alles in allem um die 30 Personen aus verschiedensten Ländern. Platz auf dem Deck ist dann offiziell noch für 400 Flüchtlinge. Die unbarmherzige Realität des Mittelmeeres hält jedoch nicht viel von solchen künstlichen Zahlen: Am 21. August hatte die »Aquarius« ihren bisher größten Einsatz. 496 Menschen mussten gerettet werden, darunter sieben schwangere Frauen. Schiff und Besatzung kamen an die technischen und körperlichen Belastungsgrenzen.
Bereits vom ersten Abend an dominiert ein Thema viele Gespräche: Mitte August näherte sich in internationalen Gewässern nahe der libyschen Küste ein Schnellboot der »Bourbon Argos«, einem Schiff von »Ärzte ohne Grenzen«. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation hatte sich das Boot auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht identifiziert. Die Unbekannten gaben plötzlich Schüsse ab, die erschrockene Mannschaft musste sich in einen Sicherheitsraum zurückziehen. Die Angreifer enterten daraufhin die »Bourbon Argos«, verließen jedoch nach einiger Zeit wieder das von Einschusslöchern getroffene Schiff. Später bekannte sich die libysche Küstenwache zu der Attacke, behauptete aber, es habe sich nur um Warnschüsse gehandelt.
Die zivilen Rettungsschiffe vor der Küste Libyens waren in helle Aufregung versetzt. Gemeinsam versuchte man aufzuklären, was passiert war. Fast alle zogen sich in ihre Häfen zurück und überarbeiteten ihre Sicherheitsprotokolle. So auch die »Aquarius«. Abfahrtszeiten verschoben sich, Rettungsmissionen konnten nicht wie geplant durchgeführt werden.
Am Samstagmorgen starten dann endlich die Maschinen. Der Dampfer sticht wieder in See, die Küste schrumpft langsam zusammen. Der erste Tag ist geprägt von Besprechungen, Einweisungen und ersten kleinen Trainings. Jeder muss sich an der Rettungsweste ausprobieren, zwei ausgewählte Unglückshasen an dem sperrigen Ganzkörper-Schutzanzug. Wir machen uns vertraut mit der Sirenenkunde, Alltagsarbeiten werden verrichtet. Zahlreiche Hände packen Rettungswesten in transportfähige Säcke, Notfallbeutel (Kekse und Decke) stapeln sich in einem Container auf dem Deck. Dazwischen kleine Neckigkeiten, Albernheiten. Am Abend wird ein Grillfest veranstaltet.
In Extremsituationen ist es wichtig ist, einen Ausgleich durch unbeschwerte und erholsame Momente zu erleben. Und doch, es wirkt surreal. Sonntagabend erreichen wir voraussichtlich das Zielgebiet nördlich von Tripolis. Das libysche Hoheitsgewässer endet zwölf Meilen von der Küste entfernt. Erst dann dürfen Rettungsschiffe eingreifen. Die »Aquarius« wird bei 25 Meilen Entfernung warten. Sobald die Sonne am Montag aufgeht, halten wir Ausschau.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!