»Du musst Befehle geben, aber höflich«
Tag 2: Vor Erreichen des Suchgebiets finden letzte Vorbereitungen für den Ernstfall statt
Der deutsche Freiwillige Till streckt seine Hand Richtung Osten: »Person im Wasser!«, schreit er laut, auf dem Rand des Gummi-Schnellbootes sitzend. Die anderen »Search-and Rescue«-Kollegen stimmen in die Schreie ein. Eine rote Jacke, noch ein paar Dutzend Meter von uns entfernt.
Der aus Ghana stammende Fahrer Francis holt aus dem kleinen Motor alles Mögliche raus, die Ärzte-ohne-Grenzen-Fahne flattert immer schneller im Wind. Weißer Schaum teilt sich vor unseren Augen und ebnet den Weg. Ich versuche meine Kamera vor Spritzern zu schützen, in unserem Boot haben sich bereits einige Zentimeter Wasser angesammelt. Geschafft. Durchatmen. Stehenbleiben.
Till und Anton beugen sich über den Rand und fischen den Körper aus dem Wasser. Schnell wird dieser auf einer Liege fixiert und unter unzähligen Gurten festgeschnallt. Keine Zeit verlieren, zurück zum Hauptschiff bevor es zu spät ist. Um die Trage über die Außenleiter auf das Deck zu hieven, braucht es noch Unterstützung. Erst dann kommen wir an Bord.
Ani ist nicht ganz zufrieden. Die aus Spanien stammende Verantwortliche für die Suche und Rettung (SAR) möchte für den Ernstfall noch ein paar Handgriffe und Abstimmungen optimieren. Der letzte Tag vor dem Erreichen der Rettungszone muss gut genutzt werden. Mehrere Durchläufe wird es noch geben, bis alle für die Aufgabe ausgewählten Teammitglieder mit ihrer Arbeit vertraut sind.
Für die Rettungsmissionen gibt es verschiedene Pläne, je nachdem welche Bedingungen herrschen. Handelt es sich um Holz- oder Schlauchboote? In welcher Verfassung sind die Flüchtlinge? Wie stark ist der Wellengang? Befinden sich Menschen im Wasser – oder schon darunter? Im Normalfall, so wird uns in einer Morgensitzung von Ani mit einer Powerpoint-Präsentation gezeigt, gibt es zwei Boote, die für die Rettung zuständig sind: Zuerst ein kleines, welches vorausfährt, und mit den Flüchtlingen Kontakt aufnimmt. An Bord befindet sich Asma, eine Dolmetscherin von »Ärzte ohne Grenzen«. Sie hat die wichtige Aufgabe, mit den Schutzsuchenden Kontakt aufzunehmen und sie auf die kommende Rettung vorzubereiten.
Panik muss unter allen Umständen vermieden werden. Aufgeregte Flüchtlinge, die sich zu schnell von der einen Seite auf die andere bewegen, können das Boot zum Kentern bringen. Die Aufgabe der Crew: Lage überprüfen, Vertrauen aufbauen, Rettungswesten verteilen. Einzeln übergeben, aber nicht werfen. Auch dadurch kann Panik ausgelöst werden.
Nach Sondierung der Lage nähert sich das zweite Boot. Es ist das größere von beiden und kann bis zu 18 Flüchtlinge aufnehmen. Auch ein Journalist kann auf diesem normalerweise Platz nehmen – es sei denn, mehrere Personen befinden sich bereits im Wasser. Jeder Zentimeter wird in diesem Moment gebraucht. Das zweite Boot übernimmt den Transport der Flüchtlinge. Es muss genau im rechten Winkel an das Gefährt der Schutzsuchenden andocken, diese steigen über die Spitze ein. Das kleinere Boot muss von der anderen Seite gegensteuern, um für Stabilität zu sorgen. Frauen, Kinder und Verletzte zuerst.
»Du musst Befehle geben, aber dabei höflich sein«, erklärt Ani mit selbstbewusster Stimme. SAR-Verantwortliche wie sie bestimmen, wer zuerst in Sicherheit gebracht wird – und wer noch warten muss. »Das ist nicht schwer für mich«, sagt die 29-Jährige, die sich bereits auf Lesbos für Flüchtlinge engagiert hatte. »Man muss das Berufliche vom Privaten trennen und professionell sein.« Ein Anker ist auf ihrem Ohrring aufgedruckt, ein Tattoo zeigt einen Seemann, der eine Meerjungfrau küsst.
Auch die Crew von »Ärzte ohne Grenzen« fordert Aufmerksamkeit. Jeder an Bord muss an verschiedenen Lebensrettungsübungen teilnehmen. Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage werden an einem Plastikkörper geübt. Der aus London stammende Pfleger Jacob achtet genau darauf, dass sich jeder die einzelnen Schritte merkt. »Falls es massenhafte Verletzte gibt, tritt ein neues Protokoll in Kraft. Dann ist es wichtig, dass jeder helfen kann.«
Als es dunkel wird, erklärt mir Kapitän Alexander, dass morgen ab vier Uhr die ersten SAR-Mitglieder auf der Brücke erscheinen werden. Sie beginnen, mit Ferngläsern das Meer abzusuchen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.