Nicht in die Augen schauen
Tag 3 auf der »MS Aquarius«: Die erste Rettung
Ferry ist einer der ersten am frühen Morgen auf der Brücke. Der Chef des Teams von »Ärzte ohne Grenzen« lässt das Fernglas konzentriert über das dunkle Blau wandern, den ersten Kaffee hat er bereits vor dem Sonnenaufgang geleert. Seine hünenhafte Statur in Kombination mit der Expertise strahlt Autorität aus. Mit dem Cowboyhut, dem gepflegten Vollbart und dem Oberarm-Tattoo hätte man ihn an einem anderen Ort für einen Wildjäger halten können. Hier jagt er eben Schiffe. »Dort ist ein schwarzer Fleck«, murmelt er auf einmal, es ist kurz nach halb sieben. Ani vom »Search and Rescue«-Team (SAR) stellt sich neben ihn, auch sie schaut nun durchs Fernglas. »Es ist vermutlich ein Fischerboot«, schätzt Ferry. »Diese oder Militärboote sind eher schwarze Flecken, Flüchtlingsboote eher weiße.« Als ich auf das Wasser blicke, sehe ich nur schäumende Düsternis, eine Trockenheit liegt in der Luft.
Ferry liegt falsch. Zehn Minuten später werden alle noch Schlafenden geweckt, die ersten ziehen bereits ihre Rettungswesten an. Auf dem Deck sammeln sich angespannte wie übermüdete Gesichter. Das Schlauchboot der Flüchtlinge ist bereits deutlich zu erkennen, dutzende aneinanderklebende Körper schauen erwartungsvoll in unsere Richtung. Ich sehe, wie einige Crewmitglieder zu winken beginnen und stimme mit ein. Es ist vielsagend, dass wir bereits wenige Minuten nach offiziellem Start unserer Rettungsmission einen ersten Einsatz haben.
Nachdem sich unser Erkundungsboot genähert hat, gibt es ein erstes, vorsichtiges Aufatmen. Gutes Wetter, ruhiger Wellengang, intaktes Gefährt der Flüchtlinge. Dafür aber ungewöhnlich viele Kinder an Bord. »Ein Lächeln schadet nicht«; ruft uns SAR-Chef Johann noch entgegen, danach werden in Gruppen von 18 Leuten die erschöpften Flüchtlinge an Deck gebracht. Einige müssen gestützt werden. Ein junger Mann küsst den Boden unter seinen Füßen, als er das Schiff betritt. Alle zur Verfügung stehenden Hände helfen beim Abnehmen der Rettungswesten, auch ich lege kurz meine Kamera zur Seite. Kinder und Frauen werden zügig in einen geschützten Bereich gebracht, Ärzte führen sie an der Hand. »Wir wissen nicht, was diese Frauen durchgemacht haben und in welcher Beziehung sie zu den Männern hier stehen«, erklärt die für die Betreuung zuständige Hebamme Jonquil.
Die Pfleger beeilen sich, alle Flüchtlinge mit einem Band zu registrieren, das Alter und Gesundheitszustand erfasst. Jeder erhält eine Decke, einen weißen Overall, Wasser und 2000-Kalorien-Kekse. Die alte, von Benzin und Salzwasser verätzte Kleidung landet in Müllsäcken. Die SAR-Mitglieder, die an der Außenleiter die Flüchtlinge einzeln in Empfang nehmen, kommen kaum zur Ruhe. Nur wenn das Rettungsboot wieder ablegt, um neue Flüchtlinge aufzunehmen, ist Zeit für ein kurzes Verschnaufen. »Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen, dann geht das schon«, sagt der aus Koblenz kommende Anton. Ich frage Edouard, der früher in Frankreich als Seemann und Fischer arbeitete, wie er sich fühlt. Er denkt kurz nach. »Nützlich.«
Wie sich später herausstellt, hat das Team der »MS Aquarius« an diesem Tag 142 Menschenleben gerettet. Eine Bilderbuchrettung, viele an Bord bestätigen das. Unter den Flüchtlingen befanden sich acht Kinder, das jüngste ist erst ein Jahr alt. Eine Frau hatte sich schwanger auf den Weg gemacht. Die meisten kamen von Côte d’Ivoire und aus Mali. In der Nacht waren sie offenbar von der libyschen Küste aufgebrochen und hatten uns nach ungefähr fünf Stunden erreicht. Ihre Reise war von vornherein ein Himmelfahrtskommando: »Bis nach Sizilien braucht man fast zwei Tage«, erklärt kopfschüttelnd der Freiwillige Till. »In Fünf Stunden schafft man es gerade Mal hinter die libyschen Hoheitsgewässer. Wir sind doch längst ein Teil des Plans«, antwortet Anton trocken.
Die männlichen Flüchtlinge liegen dicht aneinandergedrängt auf dem Deck, einige zeigen mir einen Daumen nach oben, wenn ich sie anlächle. Auch wenn die Kommunikation schwierig ist, die Fußballmannschaften der Champions League sind geläufig. Die Stimmung ist gut, die Kinder tollen aufgedreht von den Energiekeksen herum, die Crew-Mitglieder werden zu Pferden oder zu Kletterstangen umfunktioniert. Jonquil und ein kleines Mädchen lachen um die Wette, als sie quer über das Deck tanzen. Als zwei Kinder auf einmal auch mich umarmen, ist es mit der journalistischen Distanz schnell vorbei. Zum ersten Mal an diesem Tag höre ich auf zu funktionieren und schaffe es loszulassen. Die Linse meiner Kamera war ein Schutzschild, das ich nun mit Vorsicht beginne, abzulegen. Für einen Moment realisiere ich, dass wir all diese Menschen vermutlich vor dem Ertrinken oder Verdursten bewahrt haben. Und bin glücklich.
Am Abend wird von der Koordinierungsstelle in Rom entschieden, dass wir die Flüchtlinge an die italienische Küstenwache übergeben sollen. Neue Schiffe tauchen auf, Sicherheitskräfte in Ganzkörperanzügen und Atemmasken nehmen die Schutzsuchenden an Bord. Ein italienischer Kapitän verteilt vom Dach seines Bootes Befehle. Der Anblick schreckt mich ab. »Bei uns geht es ihnen wahrscheinlich besser«, sagt SOS-Méditerranéée-Mitarbeiter René. Ich beginne, mir Sorgen zu machen. Wohin sie auch gebracht werden, angekommen sind sie noch lange nicht.
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