Alles unter einem Dach
Das Gesundheitszentrum für Obdachlose feiert zehnjähriges Bestehen
»Mensch zu sein, das heißt in Würde zu leben.« Es war dieser Gedanke, der Jenny De la Torre vor zehn Jahren dazu inspirierte, das Gesundheitszentrum für Obdachlose (GZO) zu gründen. In dem roten Backsteinhaus in der Pflugstraße in Mitte, das früher einmal eine Kindertagesstätte war, bietet das Zentrum obdachlosen Menschen Hilfe in allen Lebenslagen an.
De la Torre ist selbst Ärztin und kümmert sich mit sechs ehrenamtlichen Kollegen um die medizinische Versorgung der Bedürftigen. Darunter sind Dermatologen, Orthopäden und Zahnärzte. »Mit ärztlicher Hilfe allein ist es aber nicht getan«, sagt De la Torre. Denn viele Probleme, die Obdachlosigkeit mit sich bringt, können nicht allein durch ärztliche Behandlung behoben werden. Deshalb müsse es ganzheitliche Hilfe geben, so De la Torre. Im GZO gibt es also neben Ärzten auch psychologische Betreuung sowie Sozial- und Rechtsberatung. Nicht nur Obdachlose nutzen das Gesundheitszentrum, auch andere Bedürftige wenden sich an das Haus. Inzwischen kämen sogar Studenten in die Sprechstunden der Ärzte, die keine Krankenversicherung haben. Auch sie werden hier behandelt. Täglich behandeln und betreuen die Mitarbeiter etwa 50-80 Menschen im Gesundheitszentrum.
Für die Betroffenen sind alle Angebote kostenlos, ebenso das tägliche Frühstück und Mittagessen. »Wir bekommen viele Lebensmittel von Spendern und dann schauen wir, was wir leckeres daraus machen können«, erklärt der hauseigene Koch des GZO, Heinz Schmidt. Auch ein Friseur und ein Fotograf für Passbilder stehen den Betroffenen zu Verfügung, es gibt eine Kleiderkammer, eine Duschgelegenheit und ein Café. Nur schlafen kann man im Gesundheitszentrum nicht.
Das Haus finanziert seine Arbeit und die zehn festen Stellen der Mitarbeiter fast ausschließlich durch Spenden, die die Jenny de La Torre Stiftung sammelt. Davon hat die Stiftung das Haus inzwischen gekauft. »Es gehört jetzt den Obdachlosen«, sagt Gründerin De la Torre. Zu Beginn des Projektes hatte sie befürchtet, vielleicht nicht genug Spenden für das Zentrum eintreiben zu können. »Was passiert dann?«, fragte sie sich. »Schwerstkranken Menschen ist nicht mit einem Schulterklopfen geholfen.« Und Obdachlosigkeit, so De La Torre, macht die Menschen krank. Körperlich und psychisch. »Es ist wichtig, dass man die Komplexität von Obdachlosigkeit erkennt«, sagt die Ärztin. Viele Faktoren spielten dort zusammen: körperliche und seelische Belastung, Ausgrenzung und Vereinsamung. »Wir müssen diesen Menschen die Hand geben«, sagt De la Torre. »Wenn wir sie aufgeben, geben wir uns selbst auf.« Obdachlosigkeit dürfe in der Gesellschaft nicht zur Normalität werden.
Die letzte offizielle Zahl zu Obdachlosen in Berlin wurde 2012 erhoben, damals lebten etwa 12 000 Menschen auf der Straße. Laut Aussage des Vorstandsmitglieds des Paritätischen Wohlfahrtsverband, Helmut Forner, gehe man inzwischen von circa 17 000 Obdachlosen aus. »Wir brauchen mehr Ordnung in der Versorgung der Obdachlosen«, fordert Forner. Dabei dürfe man weder das Land Berlin noch die Kassenärztliche Vereinigung aus der Verantwortung lassen. Auch der Bezirksbürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD), der das Gesundheitszentrum von Anfang an begleitete, betont die staatliche Verantwortung gegenüber Obdachlosen. »In den letzten fünf Jahren gab es einen Stillstand in der Berliner Obdachlosenhilfe.«
Jenny de La Torre fordert mehr staatliche Einrichtungen für obdachlose Personen. »Wir müssen alle Hand in Hand arbeiten«, sagt sie. Jedoch wünscht sie sich auch, dass anstatt auf Massenunterkünfte der Fokus stärker auf individuelle Hilfe gelegt wird. Nur dann könne man erreichen, dass Betroffene auch langfristig den Weg zurück in ein normales Leben schaffen und nicht nach kurzer Zeit wieder auf der Straße landen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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