Ein grauenvolles Puzzle

Tag 5: Fluchtgeschichten

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Am verstörendsten sind die Erzählungen der Flüchtlinge. Gar nicht unbedingt während einer Rettung oder in der direkten Zeit danach. Dort sind die meisten Crew-Mitglieder mit den akuten Versorgungsaufgaben beschäftigt, und die Neuankömmlinge haben andere Sorgen, als ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Selbst wenn sie getrunken, gegessen, sich umgezogen und geschlafen haben, bleibt immer noch das Problem der Kommunikation. Eventuell braucht man einen Übersetzer und selbst dann kann es sein, dass sie Französisch oder Englisch nur schlecht beherrschen. Wenn die »MS Aquarius« selbst die Flüchtlinge die knapp 30 Stunden bis nach Sizilien zurückbringt, gibt es mehr Raum für Gespräche, sonst bleiben nur ein paar Stunden, bis sie einem anderen Schiff übergeben werden. Es ist eine absurde Herausforderung, in wenigen Minuten mit Menschen, die man nicht kennt, über Folter und Misshandlungen zu sprechen. Das oftmals, während Dutzende andere Flüchtlinge daneben sitzen und zuhören, und die Befragten nur wenige Momente zuvor dem Tod knapp entkommen sind.

Es sind eher die Tage danach, wo die Geschichten zu kursieren beginnen. Meist sind die Schutzsuchenden da schon wieder auf der nächsten Etappe ihrer Reise. Die Menschen an Bord beginnen dann plötzlich zwischen ihren Albernheiten und Alltagsgesprächen kleine Schnipsel einzufügen, die sie oder andere aufgeschnappt haben. Erfahrungsberichte, Szenen, Anekdoten, die sich zu einem wachsenden, grauenvollen Puzzle zusammensetzen. Nach Aussage mehrerer Crew-Mitglieder ähneln sich die Geschichten nach jeder Rettung, nur die Details der erlebten Misshandlungen unterscheiden sich.

Auch von den Geretteten der »MS Aquarius« vom 5. September gibt es diese Berichte. Eine 30-jährige Geflüchtete hatte beispielsweise der anwesenden BBC-Journalistin Lucy Grey von ihrem Leidensweg erzählt. Sie erklärte, wie ihre Familie in Kamerun ermordet wurde und sich später in Nigeria Kämpfer der islamistischen Boko-Haram-Miliz an ihr vergangen haben. Mehrmals. Drei Wochen war sie anschließend durch die Sahara-Wüste gelaufen, um nach Libyen zu gelangen. Sarah von »Ärzte ohne Grenzen« präzisiert mir gegenüber: Bevor junge Frauen die Wüste überqueren, nehmen sie oftmals präventiv Verhütungsmittel ein, da sie bereits damit rechnen, auf ihrem Weg vergewaltigt zu werden. Ihre Ehemänner wurden zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon umgebracht und Menschenschmuggler sind ihnen längst auf den Fersen. Später steigen diese Frauen dann in ein Schlauchboot, bei dem die Überlebenschance bei rund 1 zu 19 liegt. »Das ist sehr mutig von ihnen«, sagt Sarah. Sie schätzt, dass mehr als die Hälfte der Frauen misshandelt wurden.

Auch die Männer haben Schreckliches erlitten. Ein Jugendlicher musste behandelt werden, da man ihn vor drei Monaten gefoltert hatte. Seine Geschlechtsteile tragen immer noch Spuren davon, er macht sich Sorgen, keine Kinder mehr zeugen zu können. Ein 17-Jähriger beklagte mir gegenüber den extremen Rassismus, dem er in Libyen ausgesetzt war. Er sei entführt und geschlagen worden, später habe er unentgeltlich an mehreren Orten arbeiten müssen, um sein »Ticket« für das Schlauchboot zu erhalten. »Sklaverei«, kommentiert die Hebamme Jonquil.

Die Geschichten, die mir oder den anderen zu Ohren kommen, sind nur ein Bruchteil von dem, was Asma Mourad regelmäßig ertragen muss. Die junge, zurückhaltende Dolmetscherin von »Ärzte ohne Grenzen« hat den meisten Kontakt mit den Flüchtlingen und durch ihre Funktion eine besondere Verbindung zu ihnen. Auf dem kleinen Erkundungsboot nähert sie sich als erste den Schlauchbooten. Selten sieht man sie Lachen, ihr Gesicht mit den markanten Augenbrauen strahlt Ernsthaftigkeit aus, ihr forschender Blick eine fragile Stärke. Früher hatte sie für humanitäre Organisationen in der Verwaltung gearbeitet, nun ist sie das erste Mal auf See. Nach dem ersten Rettungseinsatz der »MS Aquarius« habe ich mit ihr gesprochen:

Asma, du arbeitest für »Ärzte ohne Grenzen« als »kulturelle Vermittlerin«. Was bedeutet das?
Ich bin verantwortlich für den ersten Kontakt mit den Flüchtlingen. Für die Rettung versuche ich ein Vertrauensverhältnis mit ihnen aufzubauen. Ich erkläre ihnen, dass wir gekommen sind, um zu helfen und was als nächstes passieren wird. Der Einsatz soll so möglichst entspannt verlaufen.

Vor kurzem hatte die »MS Aquarius« die erste Rettung. Wie lief es aus deiner Perspektive?
Es lief gut. Am Anfang gab es nur ein paar kleine Anlaufschwierigkeiten, weil die Leute geredet haben.

Was hattest du dann gemacht?
Ich habe versucht sie zu beruhigen, so dass das andere Team mit dem Transport beginnen konnte. »Habt keine Angst«, »Wir sind eine humanitäre Organisation«, »Wir bringen euch nach Europa«, habe ich zu ihnen gesagt. Auch dass wir keinen zurücklassen werden. Und dass sie unseren Anweisungen folgen sollen.

Wie hast du dich nach der Rettung gefühlt?
Es sind widersprüchliche Gefühle. Ich freue mich, dass jeder sicher das Boot erreicht hat. Von den Erlebnissen der Flüchtlinge während ihrer Reisen zu hören, macht mich gleichzeitig ein wenig verzweifelt.

Bekommst du davon mehr mit als der Rest der Crew?
Ich bin das erste Gesicht, dass sie sehen. Wir bauen ein Vertrauensverhältnis auf. Gegenüber mir öffnen sie sich in der Folge mehr als gegenüber den anderen.

Wie gehst du damit um, all die schrecklichen Geschichten zu hören?
Ich versuche zu dem, was ich höre, Distanz aufzubauen. Gleichzeitig sage ich mir selbst immer wieder, dass ich diesen Menschen bei der Lösung ihrer Probleme helfen kann.

Was sind Schwierigkeiten, auf die du während deiner Arbeit stoßen kannst?
Kritisch wird es, wenn die Leute in Panik geraten und nicht mehr meine Sätze verstehen. Je schlechter der Zustand des Bootes ist, desto aufgeregter sind die Flüchtlinge.

Was hilft in so einem Moment? Die Flüchtlinge anschreien?
Ich will sie nicht anschreien, ich denke diese Leute haben bereits genug gelitten. Damit meine ich nicht nur die Folter. Ich versuche, so ruhig wie möglich zu sein. Manchmal muss ich lauter werden, aber ich benutze normalerweise auch ein Megafon.

Was ist für dich das Schwierigste an dieser Aufgabe?
Diese Leute haben das Vertrauen in die Menschen verloren. Ich muss ihnen erklären, dass wir hier sind, um zu helfen und nicht, um ihnen zu schaden. Das ist der schwierigste Teil und muss in einigen Minuten oder gar Sekunden funktionieren. Und dass alleine über den Augenkontakt oder die Tonlage.

Wie wurdest du vorbereitet?
»Ärzte ohne Grenzen« sowie der Kollege, der die Aufgabe vor mir hatte, haben mich eingewiesen. Es ist das erste Mal, dass ich auf einem Rettungsschiff arbeite. Ich war davor aufgeregt und bin es immer noch.

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