Können diese Zahlen lügen?

Mit statistischen Daten lässt sich bei Bedarf fast alles beweisen, wenn nötig sogar das Gegenteil. Von Martin Koch

  • Mit statistischen Daten lässt sich bei Bedarf fast alles beweisen, wenn nötig sogar das Gegenteil.
  • Lesedauer: 6 Min.

Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Dieser Satz wird gewöhnlich Winston Churchill zugeschrieben, obwohl bisher niemand dafür eine Quelle hat finden können. Dass Statistiker verärgert sind, wenn man derart respektlos über ihre Arbeit herzieht, versteht sich. Doch wie in jedem guten Bonmot steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit.

Denn selbst wenn die in eine Statistik einfließenden Daten korrekt sind, kann man sie, nicht zuletzt durch eine geschickte Darbietung, unterschiedlich auslegen. Ein Beispiel: Im Jahr 2014 lag das durchschnittliche Jahreseinkommen im Sultanat Brunei pro Kopf bei 71 000 Dollar, in Deutschland bei 47 000 Euro. Mancher könnte nun glauben, dass die Menschen in Brunei viel wohlhabender seien als die in Deutschland. Doch das ist ein Trugschluss. Denn die Zahlen geben das sogenannte arithmetische Mittel wieder, welches man erhält, wenn man sämtliche Einkommen addiert und durch die Zahl der Bewohner eines Landes teilt. In Brunei fällt dieses deshalb so hoch aus, weil unter die Einkommen auch die gigantischen Einnahmen des Sultans fallen, während dessen Untertanen kaum fürstlich verdienen. Zudem ist die Bevölkerungszahl Bruneis mit knapp 420 000 deutlich geringer als die Deutschlands. Überhaupt wird das arithmetische Mittel dort gern benutzt, wo es gilt, Ungleichheiten zu verschleiern - nach dem Motto: Wenn einer hungert und ein anderer ein Hühnchen isst, dann haben beide im Schnitt ein halbes Hühnchen verzehrt und sind satt.

Menschen fällt es erfahrungsgemäß schwer, die Tricks zu durchschauen, die bei der Aufbereitung statistischer Daten häufig angewandt werden. »Das erleichtert es Politikern und Lobbyisten, mit Zahlen so zu jonglieren, dass eine gewünschte Aussage herauskommt«, sagt der Dortmunder Wirtschaftsstatistiker Walter Krämer. Eine in Deutschland einflussreiche Lobbyorganisation ist die neoliberale »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), die 2015 mit dem Versprechen warb, dass sich durch das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA, kurz TTIP genannt, das Jahreseinkommen eines vierköpfigen EU-Haushalts jährlich um 545 Euro erhöhen würde.

Entnommen ist diese Zahl einer 2013 veröffentlichten Studie für die Europäische Kommission, in der nur die optimistischen Prognosen zu TTIP angeführt, die pessimistischen dagegen ignoriert werden. Wie der »foodwatch«-Geschäftsführer Thilo Bode überdies feststellte, bezieht sich das prognostizierte Plus von 545 Euro nicht auf ein Jahr, sondern auf zehn Jahre, was sich schon weitaus bescheidener ausnimmt. Die Täuschung reicht aber noch weiter. Denn die geschätzten 545 Euro sind lediglich ein Mittelwert, aus dem nicht hervorgeht - man denke an den Sultan von Brunei -, ob das Zusatzeinkommen der Mehrheit der EU-Bürger zugutekommt, oder ob nur wenige kräftig abkassieren und die anderen draufzahlen. Obwohl das INSM »bedauerte«, die Zahlen der Studie missverstanden zu haben, besteht für Bode kein Zweifel: Lobbyisten täuschen die Öffentlichkeit bewusst, um einen Vertrag durchzuboxen, der bei wahrhaftiger Information kaum Chancen auf öffentliche Akzeptanz hätte.

Achten sollte man bei statistischen Erhebungen auch darauf, wer wen befragt hat. Nach der Wende hieß es zum Beispiel, dass 59 Prozent der Deutschen sich wieder einen Monarchen an der Spitze des Staates wünschten. Das Ergebnis überrascht - dann nicht, wenn man erfährt, dass die Umfrage von der Illustrierten »Bunte« durchgeführt wurde, deren Leser sich gern an gekrönten Häuptern ergötzen. Die gleiche Umfrage im »nd« hätte zweifellos ein anderes Ergebnis erbracht.

Wie sich Zahlen geschickt manipulieren lassen, demonstriert regelmäßig die Pharmaindustrie, die seit Jahren Milliardenumsätze mit Cholesterinsenkern wie Atorvastatin macht. Dieser Wirkstoff aus der Gruppe der Statine wird von dem Pharmariesen Pfizer in Deutschland unter dem Namen Sortis vertrieben. Als 2004 die Gesundheitsreform in Kraft trat, weigerte sich Pfizer, den Preis anzupassen und die Patienten mussten zuzahlen. Mit einem Umsatz von 12,3 Milliarden Dollar stand Atorvastatin 2011 auf Platz eins der Liste der weltweit umsatzstärksten Medikamente.

Doch welchen Nutzen hat der Wirkstoff, der zu Nebenwirkungen wie Fieber, Müdigkeit oder Muskelkrämpfen führen kann? Laut Pfizer reduziert er das Risiko eines Schlaganfalls bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und mindestens einem anderen Risikofaktor für Herzerkrankungen um 48 Prozent. Auf den ersten Blick ist das eine beeindruckende Zahl. Aber was besagt sie? Erleiden von 100 Personen mit Risikofaktoren 48 weniger einen Schlaganfall? Pfizer mag hoffen, dass die meisten Patienten so denken. Doch die 48 Prozent beschreiben nur die relative und nicht die absolute Risikoreduktion, deren Wert 1,3 Prozentpunkte beträgt. Das heißt, während der vierjährigen Studie erlitten 1,5 Prozent der mit Sortis behandelten Patienten einen Schlaganfall, in der Placebogruppe waren es 2,8 Prozent. Oder in Häufigkeiten ausgedrückt: Von 1000 Personen, die Sortis einnehmen, haben 13 einen Nutzen. Die große Mehrheit hingegen muss gesundheitliche Nachteile befürchten, zu denen auch sexuelle Funktionsstörungen gehören. Denn Cholesterin ist wichtig für die Produktion von Sexualhormonen.

Bereits in den 1950er Jahren hatte sich der US-amerikanische Mediziner Ancel Keys Ernährungsdaten aus 22 Ländern besorgt und nach deren Auswertung behauptet, dass das namentlich in Eiern enthaltene Cholesterin Herzkrankheiten verursache. Doch die von ihm veröffentlichte Statistik enthielt in Wirklichkeit nur Zahlen, die einen solchen Zusammenhang formal bestätigten. Und die wiederum stammten aus nicht mehr als sieben Ländern. Alle anderen Daten fehlten, Keys hatte sie einfach unter den Tisch fallen lassen. Da die Öffentlichkeit von dieser Manipulation nichts erfuhr, löste die Studie bei vielen Menschen in den USA eine panische Angst vor Cholesterin aus. Davon profitierte in erster Linie die Margarineindustrie, für die, wie sich später herausstellte, Keys als bezahlter Berater tätig war.

Häufig dient das Spiel mit Zahlen auch dazu, aus immer mehr Menschen Patienten zu machen. Der Trick: Man senkt die Grenzwerte für bestimmte physiologische Parameter schrittweise ab, so dass, wer zuvor noch gesund war, plötzlich als krank gilt. In den 1980er Jahren wurde zum Beispiel ein Blutdruckwert von 160/100 mmHg für normal gehalten. Danach senkte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Grenzwert auf 140/90 mmHg. Dies sei auf Druck der Pharmaindustrie geschehen, sagen Kritiker. Profitiert haben die Konzerne allemal, denn heute nehmen deutlich mehr Menschen blutdrucksenkende Mittel als vor 30 Jahren. Und das, obwohl bei leicht erhöhtem Blutdruck Medikamente in der Regel kaum nützen.

Auch die Senkung des Blutzucker-Grenzwertes von 140 mg/dl auf 126 mg/dl hat der Gesundheitsindustrie Millionen neue Kunden beschert. Dabei gebe es für eine solche Absenkung »keine seriösen, fachlich wie handwerklich korrekt durchgeführten Studien, die dies medizinisch rechtfertigen könnten«, sagt der Allgemeinmediziner und Buchautor Gunter Frank. Doch woher stammen die Daten, die solchen Grenzwertänderungen zugrunde liegen? Skeptische Wissenschaftler haben 1000 Studien zu Diabetes-2 überprüft. Davon waren sage und schreibe 94 Prozent kommerziell gesponsert, namentlich von der Pharmaindustrie, die mit Diabetesmedikamenten inzwischen jährlich über 50 Milliarden Dollar Umsatz macht. Tendenz steigend.

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