Utopische Risse im 
Herrschaftsgefüge

Krisenzeiten bieten sich an, über eine 
Zukunft nachzudenken, die eine bessere 
Welt verspricht. Aber diesbezügliche 
Ansätze in der Linken werden selten 
konkret ausgestaltet.

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Nachfrage nach Utopien im Morus-Jahr fällt bisher eher mäßig aus: eine Handvoll Veranstaltungen, kaum Bucherscheinungen und wenig dazu in den Feuilletons. Für die Buchverlage scheinen der 400. Todestag William Shakespeares und das bevorstehende Lutherjahr mehr Bedeutung zu haben. Es sind eher kleine linke Verlage, die sich des Themas annehmen. Die theorie.org-Reihe des Schmetterling-Verlags brachte schon kurz vor Jahreswechsel mit Alexander Neupert-Dopplers »Utopie« eine pointierte Übersicht des Begriffs und der dazugehörigen philosophischen und politischen Debatten heraus. Der Nautilus-Verlag startet unter dem Titel »Utopie für Hand und Kopf« eine ganze Buchreihe. Als erste Bände bringt der Hamburger Verlag zum einen mit William Morris’ »Kunde von nirgendwo« einen libertär-sozialistischen Utopie-Klassiker des 19. Jahrhunderts und zum anderen Reden von Martin Luther King heraus.

In die gesellschaftliche Breite wirkt der 500. Jahrestag von Thomas Morus’ Erzählung jedoch nicht. Das ist etwas überraschend, denn Utopien gibt es vor allem in Zeiten von Krise und gesellschaftlichen Umbrüchen. Aber auch die Protestwellen der letzten Jahre haben gesamtgesellschaftlich kein signifikantes Mehr an utopischen Diskursen oder Narrativen erzeugt. Wobei gleichzeitig das Genre der Science-Fiction in Film und Literatur boomt. Nur herrschen hier die Dystopien vor. Welcher Schriftsteller würde sich schon mit einer Utopie aus dem Fenster lehnen? In Hollywoodproduktionen dominiert sowieso der dystopische Geist. Von »World War Z« bis »Independence Day« oder in Fernsehserien wie »The 100« werden apokalyptische Katastrophenszenarien inklusive starker Führungsfiguren in Szene gesetzt, um die Kontrollgesellschaft und biopolitische Segregation zu rationalisieren. Als würde sich die kapitalistische Wirklichkeit in potenzierter Form kritiklos in fiktionalen Narrativen fortschreiben.

In Zeiten der Alternativlosigkeit (Merkel) und nach dem Ende der Geschichte, das der neoliberale Zeremonienmeister Francis Fukuyama vor 20 Jahren ausrief, scheint es kaum Bedarf für eine andere Welt zu geben. Die einzufordern hat immer etwas mit Sehnsüchten zu tun, mit politischem Begehren, mit der schlichten Notwendigkeit oder mit einem materiellen Bedürfnis, die heutige Ordnung zu überwinden. Während der neoliberale Hegemonieblock eher gestärkt aus der Krise seit 2008 hervorgeht, rennen die Gegner des kapitalistischen Verwertungssystems trotz weltweit aus dem Boden schießender Protestbewegungen von Paris über Istanbul bis Santiago de Chile gegen eine Wand an. Gleichzeitig befindet sich die politische Rechte global deutlich auf dem Vormarsch - von den Islamisten über Donald Trump und Marine Le Pen bis hin zu Pegida, der AfD und dem rassistischen Mob in ganz Europa. Ob sich hier eine signifikante Neuformierung politischer Kräfteverhältnisse oder gar eine grundlegende systemische Verschiebung abzeichnet, bleibt abzuwarten. Nach utopischen Möglichkeiten sieht das aber nicht aus. Die Dystopie der kapitalistischen Alternativlosigkeit scheint sich gerade in Krisenzeiten mithilfe eines autoritären Rollbacks neofaschistischer Kräfte zu verstetigen.

In der politischen Linken ist dagegen ein gewisses Revival des Utopiebegriffs zu verzeichnen, wie der Politologe Alexander Neupert-Doppler in seinem Buch »Utopie - vom Roman zur Denkfigur« aufzeigt. Dabei war für die politische Linke der Begriff der Utopie lange Zeit negativ besetzt. Laut Marx sollte im wissenschaftlichen Sozialismus »die soziale Revolution aus dem Reich der Utopie in das Reich der Wirklichkeit« treten. Im Lauf der 20. Jahrhunderts änderte sich unter anderem mit Gustav Landauer, Ernst Bloch und Herbert Marcuse der linke Utopiebegriff und war spätestens nach 1968 mit einem herrschaftskritischen Konzept verbunden. Heute finden sich utopische Anklänge in der Parole der Antiglobalisierungsbewegung »Eine andere Welt ist möglich«, der Begriff taucht aber auch in Grundsatzpapieren postautonomer Gruppen oder im Erfurter Parteiprogramm der LINKEN auf. Und der Forderung antirassistischer Gruppen »No border, no nation!«, um alle Grenzen aufzulösen, liegt letztlich die abstrakte Idee einer radikal anderen Welt zugrunde.

Aber konkreter ausgemalt wird der Begriff nicht, wie das in klassischen utopischen Erzählungen der Fall war. Die antiautoritäre und undogmatische Linke verspürt ein verständliches Unbehagen gegenüber programmatischen Zukunftsentwürfen und folgt darin Adornos Bilderverbot in Sachen Utopie. Versuche, Utopien im kommunitären Zusammenleben ganz praktisch zu gestalten, gibt es heute zuhauf. Sie finden aber eher im Privaten statt und sind weniger öffentlichkeitswirksame und politisch aufgeladene Projekte als in den 1970er und 1980er Jahren. Die Utopie fungiert in linken Diskursen heute vor allem als programmatisches Schlagwort. In »Die Idee des Sozialismus« konstatierte Axel Honneth unlängst »die Entkopplung der Entrüstung von jeglicher Zukunftsorientierung, des Protestes von allen Visionen eines Besseren«. Die Ströme utopischen Denkens seien unterbrochen, so Honneth.

Aber wie ist das einzuordnen? Hat die Utopie heute schlicht eine andere Funktion? Ist es nach den historischen Erfahrungen mit dem autoritären Staatssozialismus und der erfolgreichen Assimilation eines linken subkulturell geprägten Freiheitsbegriffs der 1968er durch den Neoliberalismus wirklich ratsam, mögliche Zukunftsvisionen konkret zu benennen? Oder kann die Utopie heute im spätkapitalistischen Dickicht der alles durchdringenden Herrschaftstechniken nur negativ sein, um eine Positionsbestimmung zu finden, um sich zu organisieren und den alltäglichen Gehorsam aus Aufstehen und Arbeitengehen, des Sich-Informierens, des Konsumierens, des Sachzwänge-Akzeptierens, des Investierens und der selbstoptimierenden biografischen Vereinzelung aufzukündigen? Oder gilt es vielmehr, utopische Potenzialitäten auszuloten und nach utopischen Rissen im sonst so kompakten Herrschaftsgefüge Ausschau zu halten? Genau jene sich plötzlich zeigenden Risse in der sozialen Ordnung, wie sie die neuen Protestbewegungen erzeugen - mit den öffentlichen Versammlungen in Spanien, den Hausbesetzungen in den urbanen Verwertungszonen überall auf der Welt, den kollektiven Aneignungen der Landlosenbewegungen und den aufständischen Erhebungen, deren Taktung global gesehen immer kürzer zu werden scheint. Aber dieser Hoffnung der Emanzipation steht die dystopische Potenzialität des neofaschistischen Rollbacks entgegen.

Und der wird auf verstörende Art immer greifbarer. Der Putschversuch in der Türkei und die drastische Reaktion des autoritären Erdogan-Regimes, die nochmalige Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich, die zahlreichen Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa, die Abstimmung über den Brexit als paradigmatischer Erfolg rassistischer Mobilmachung und die drohende Wahl Donald Trumps zum Oberbefehlshaber einer aufgerüsteten Nuklearmacht zeigen, dass die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie von Neofaschisten für ihre politischen Ziele deutlich besser nutzbar gemacht werden können als von linker Seite, wie die Krisenverwaltung von SYRIZA und die seit der Parteigründung galoppierende Entdemokratisierung von Podemos belegen.

Aber auch die Prügelattacken der Istanbuler Polizei auf LGBTIQ-Aktivistinnen, die Rammbockmentalität polizeilicher Logik, wie sie Berlins Innensenator Henkel im Zusammenhang mit der Rigaer Straße zeigt, die derzeitige staatliche Offensive in Italien gegen die Centri Sociale und die bei polizeilichen Kontrollen im Stop-and-search-Modus ermordeten schwarzen Jugendlichen in amerikanischen Städten - die staatliche Repressionsmaschinerie scheint sich zu intensivieren, ohne dass in gesellschaftlichen Diskursen eine substanzielle Kritik daran geübt werden kann, die etwas ändert. Der starke Staat als heimliche Sehnsucht des neofaschistischen Begehrens wird längst ins Werk gesetzt.

Die Frage ist, ob - um dem etwas entgegenzusetzen - der Bezug auf einen Utopiebegriff wirksam werden kann. Laut dem Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein zeichnet sich der bedeutende Bruch der 1968er Bewegung vor allem dadurch aus, dass eine linke, emanzipatorische Alternative jenseits staatlicher Hegemonie vorstellbar wurde. Wie so eine kollektive, nicht staatsförmige Praxis, das kapitalistische Verwertungsregime außer Kraft zu setzen, aussehen kann, wird in der makrohistorischen Analyse Wallersteins freilich nicht konkreter.

Die jüngsten Protestbewegungen versuchen aber sehr direkt, persönliche Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen zu übertragen, wie der Politologe Nikolai Huke in seiner spannenden Studie zu den verschiedenen Protestbewegungen in Spanien aufzeigt. Die Asambleas als zentrales Element, die sich durch viele verschiedene Protestbewegungen als Praxis ziehen, um ein solidarisches, politisch handlungsmächtiges Kollektiv zu erzeugen, können letztlich auch als Orte verstanden werden - als Utopien im wörtlichen Sinn von »Nicht-Räumen« (outopia) oder »guten Räumen« (eutopia).

Die Berliner Autorin Bini Adamczak wies kürzlich darauf hin, dass die Revolution von 1917 egalitär und damit auch homogenisierend war, während die Revolte von 1968 einen auf Differenz gründenden Freiheitsbegriff formulierte, der vom Kapitalismus assimiliert zu Atomisierung führte. »Heute sind die Bedingungen des Kommunistischen diejenigen der Verstreuung, schon deswegen lautet sein erstes Wort Versammlung.« Daran gilt es anzuknüpfen, um möglichst viele dieser utopischen Orte der Versammlung zu schaffen und in ihnen mit widerständiger Organisierung Risse im Herrschaftsgefüge zu erzeugen und kollektives politisches Begehren von der Theorie in die Praxis zu überführen.

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