Opferfest ohne Waffengänge
Waffenstillstand in Syrien weckt trotz aller Zweifel wieder Hoffnungen
»Das hier ist nicht unser Krieg, das hier ist euer Krieg«, sagt Khaddoum A. Er sitzt bei seinem alten Schulfreund Moutaz D., der Süßigkeiten in der Nähe des historischen Hijaz-Bahnhofes verkauft. Kurz vor dem Fest gehen die Geschäfte gut, bis Mitternacht bleibt der Laden geöffnet. »Amerika, Europa, Russland, Iran, die Golfstaaten - alle kämpfen hier, um sich Märkte zu sichern. Erst verdienen sie am Krieg, dann verdienen sie am Wiederaufbau. Uns schnüren sie die Kehle mit ihren Wirtschaftssanktionen ab.« Moutaz D. wirft ein: »Aber wir töten uns gegenseitig.« Sein alter Schulfreund nickt: »Stimmt, sie lassen lieber andere für ihre Interessen kämpfen. Und wenn sie den Waffenstillstand nicht wollen, werden wir Syrer ihn auch nicht durchsetzen können.«
In solchen Straßengesprächen und in den syrischen und arabischen Medien nehmen neben der Live-Berichterstattung von der Hadsch, der großen Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka, die Nachrichten über einen neuen Waffenstillstand den größten Raum ein. Von allen Seiten, mit Diskussionsforen, Telefonschaltungen und Analysen wird über die Vereinbarung berichtet, die von den Außenministern Russlands und der USA, Sergej Lawrow und John Kerry, in der Nacht zum Samstag in Genf erzielt worden ist.
Danach sollen ab Montag mit dem Beginn des muslimischen Opferfestes die Feindseligkeiten in Syrien zunächst für 48 Stunden eingestellt werden. Sollte das gelingen, kann dieser Waffenstillstand auf sieben Tage und mehr verlängert werden. Humanitäre Hilfe soll in umkämpfte Orte und Städte gebracht werden, vor allem nach Aleppo, wie Lawrow vor Journalisten betonte. Wegen der Sensibilität des Inhalts müssten die fünf Dokumente, aus denen das Abkommen bestehe, geheim bleiben.
Der US-Botschafter für Syrien, Michael Ratney, forderte die »syrische bewaffnete Opposition« in einem Brief auf, sich an die Vereinbarung zu halten und von der Nusra Front und ihrer Nachfolgeorganisation Fatah al-Shams Abstand zu nehmen. Doch Fares al-Bayoush, Kommandant bei der »Freien Syrien Armee«, sagte der Agentur Reuters, eine Distanzierung von Fatah al-Shams und der Nusra Front sei »nicht möglich«. Die Truppe sei an den meisten militärischen Operationen beteiligt, viele bewaffnete Gruppen hätten sich der Nusra Front angeschlossen.
Für viele Syrer gibt es die Unterscheidung in »moderate« und »terroristische Rebellen« schon lange nicht mehr. Der Griff zu den Waffen sei »von Anfang an ein Fehler« gewesen, zeigt eine Syrerin sich überzeugt. Sie hoffe dass der Waffenstillstand halte, die Menschen sich versöhnten und der Wiederaufbau beginnen könne. »Die Folgen des Krieges, Kriminalität, Rechtlosigkeit, die Abwanderung der syrischen Jugend und Eliten, werden uns noch viele Probleme bereiten.« Ein Mann in Aleppo sagt einer ausländischen Station, er hoffe, der Waffenstillstand werde halten. Es wäre »für ganz Aleppo gut«. »Wenn nicht, soll das Militär seine Operationen fortsetzen«, so der Mann, der sich Ayman nennt. »Es gibt keine moderaten Rebellen in Aleppo. Alle bewaffneten Gruppen verhalten sich wie Terroristen.«
Die syrische Regierung hat der Kerry-Lawrow-Vereinbarung zugestimmt. Die Armee werde die Kämpfe um Mitternacht in der Nacht zu Montag, mit Beginn des Opferfestes einstellen, hieß es in einer Erklärung. Im Norden von Aleppo werde die Castello Straße geöffnet um Hilfskonvois die Durchfahrt zu ermöglichen. Auch der vom Westen als »legitime Vertretung der syrischen Opposition« anerkannte »Hohe Verhandlungsrat« (HNC) mit Sitz in Riad, will sich an das Abkommen halten, hat aber militärischen Beobachtern zufolge auf die Kampfgruppen im Land kaum Einfluss.
An den Fronten, wo der »Islamische Staat« und die Nusra Front alias Front zur Eroberung von Syrien kämpfen, werden die Waffen nicht schweigen. Das betrifft den syrischen Golan (Nusra), Idlib (Nusra), Rakka (IS) und Azaz (Nusra) im Norden von Aleppo. Da auch »moderate Rebellen« wie der »Freien Syrischen Armee« sich nicht von den Islamisten absetzen, wird es vermutlich auch in ihren Reihen weitere Opfer geben.
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